Gesundheitsreport:Unternehmen können erfolgreich altern

Die Zahl der älteren Arbeitnehmer wird in den kommenden Jahren deutlich steigen und damit die Belastung durch Krankheiten. Viele Betriebe nehmen diese Herausforderung noch nicht ernst. Ein neuer Gesundheitsreport zeigt Lösungen auf

Von Dietrich Mittler

Schon als Münchner Haus- und Betriebsarzt hatte sich Jürgen Tempel oft die Frage gestellt: Was können Beschäftigte und Unternehmen tun, damit die Arbeitnehmer so lange wie möglich und so gesund wie möglich im Berufsleben verbleiben können? Diese Frage hat Tempel auch nicht losgelassen, als er nach vielen Jahren seiner Wahlheimat Bayern den Rücken kehrte und wieder in den Norden Deutschlands zurückging. Am Dienstag aber war Jürgen Tempel wieder da, im Münchner Presseclub - und das mit einigen Antworten auf seine zentrale Frage und mit einer deutlichen Forderung. "Die Betriebe müssen eine Kultur entwickeln, wie sie mit kranken Mitarbeitern umgehen", sagte er.

Tempel meint damit nicht jene Mitarbeiter, die kurze Zeit wegen Grippe, Husten und Heiserkeit vom Arbeitsplatz wegbleiben, sondern jene, die mit chronischen Beschwerden am Arbeitsleben teilnehmen können, aber eben mit Einschränkungen. Das trifft statistisch nachweisbar vor allem die älteren Arbeitnehmer, und die sollen künftig noch länger arbeiten. Stimmen die Prognosen, die die Krankenkasse Barmer GEK nun vorlegte, so wird im Jahr 2030 fast jeder fünfte Beschäftigte in Bayern älter als 60 Jahre sein. "Von heute rund neun Prozent steigt damit der Anteil der über 60-Jährigen an der bayerischen Erwerbsbevölkerung bis 2030 auf voraussichtlich 16 Prozent", sagte Gerhard Potuschek, der Landesgeschäftsführer der Barmer GEK in Bayern.

Ältere sollen besseren Jobchancen bekommen

Bewährt: Ältere Beschäftigte bilden das Rückgrat der meisten Betriebe.

(Foto: Tim Brakemeier/dpa)

In dem 240 Seiten starken Gesundheitsreport 2015, den Potuschek vorstellte, ist als Schwerpunkt herausgearbeitet, wie sich die Anforderungen an Bayerns Gesundheitssystem durch den demografischen Wandel verändern werden. Die klare Botschaft: Diese Herausforderungen werden mehr - nicht zuletzt auch im Krankenhausbereich, in dem mit einer deutlichen Steigerung der Klinikaufenthalte zu rechnen ist.

Vor allem chronische und altersbedingte Erkrankungen "steigen bis 2030 deutlich an", sagte Potuschek. Das gelte vor allem für Erkrankungen des Auges, Herzkrankheiten, Diabetes mellitus sowie Tumorerkrankungen. Gerade aber die Altersgruppe der 30- bis 50-Jährigen - das haben wissenschaftliche Untersuchungen in Betrieben ergeben - bilden zahlenmäßig das Rückgrat der Unternehmen, wie Arbeitsmediziner Jürgen Tempel zu bedenken gab, und längst nicht die jüngeren Beschäftigten, wie mancher vielleicht glaube. "Die Mitarbeiter im Alter zwischen 30 und 50 Jahren, die tragen im Augenblick den Betrieb", sagte er, "aber es gibt eine wachsende Gruppe von Beschäftigten im Alter von 50 plus."

Deren Arbeitskraft zu erhalten und sinnvoll - sprich zum Nutzen der Unternehmer und der Arbeitnehmer - einzusetzen, sei die zentrale Aufgabe der Zukunft. Bislang aber, so betonte Tempel, gebe es da ein Problem: "Es ist zwar geregelt, dass die Menschen hier künftig länger arbeiten müssen. Aber es ist überhaupt nicht geregelt, dass sie auch länger arbeiten können", sagte er. Aus seiner Arbeit als Betriebsarzt könne er nur sagen, diese Sorge treibe die Leute wirklich um: "Wie soll ich denn meine Arbeit bis 67 machen, wenn ich jetzt schon nicht sicher bin, ob ich das bis zum Alter von 65 Jahren schaffe."

Gesundheitsreport: SZ-Grafik

SZ-Grafik

Im Moment, so sagte Tempel, habe er noch große Zweifel daran, "dass die Betriebe in Deutschland tatsächlich auf diese Entwicklung ausreichend vorbereitet sind". In Finnland etwa seien Unternehmen, gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse, bereits einen großen Schritt weiter. Hier aber begegne er oft noch der Haltung: "Bislang haben wir immer Arbeitskräfte gefunden." Wer heute noch so denke, "der spielt Lotterie", sagt Tempel. Fakt sei, die Menschen würden älter und damit auch kränker, aber das sei kein Grund, ältere Mitarbeiter aus den Betrieben, ja aus dem Arbeitsleben zu drängen. Die in Finnland umgesetzte Lehre laute: "Krankheit muss nicht automatisch zu einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit führen. Arbeit kann so gestaltet werden, dass die Leistungsfähigkeit auch im Krankheitsfall erhalten bleibt." Sprich, Unternehmen müssten lernen, künftig mehr auf die Bedürfnisse älterer, etwa chronisch kranker Mitarbeiter einzugehen. "Ältere Menschen brauchen zum Beispiel deutlich mehr Licht am Arbeitsplatz", sagte Tempel. Und: "Hoher Zeitdruck kann ältere Mitarbeiter zur Verzweiflung treiben." Hier liege es am Arbeitgeber, kleine Pausen zu schaffen - "zum Runterfahren", wie Tempel betonte.

Auch über die Schichtpläne lasse sich vieles so regeln, dass ältere Mitarbeiter nicht geradezu in Krankheiten getrieben würden. Ein Unternehmen, das die neuen, demografisch begründeten Herausforderungen nicht erkenne, so warnte Tempel, "wird nicht erfolgreich altern". Wichtig sei eine betriebliche Gesundheitsförderung. Aber die allein reiche nicht, denn an diesen Maßnahmen beteiligten sich gerade einmal zehn bis 15 Prozent der Belegschaft. Weit erfolgsversprechender sei es, für jeden einzelnen maßgeschneiderte Konzepte zu entwickeln. Davon profitierten nicht zuletzt die Unternehmen selbst. Ältere Mitarbeiter seien zwar körperlich nicht mehr so leistungsfähig, dafür aber brächten sie weit mehr soziale Kompetenz und Erfahrung ein. Kompetenzen, die das Unternehmen vor Schaden bewahrten.

Auch Barmer-Chef Gerhard Potuschek appellierte zu mehr Gesundheitsprävention. Aber das gehe nur durch gemeinsame Anstrengungen. Einige Branchen, so betonte er, nehmen indes die Zukunftsszenarios der Statistiker bereits voraus: "Bei den Lehrern an allgemeinbildenden Schulen etwa beträgt der Anteil der Beschäftigten ab 55 Jahren bereits 33 Prozent, bei Justiz und Polizei sind es 30 Prozent und in der öffentlichen Verwaltung 27 Prozent."

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