Gesundheitspolitk:Rettungsdienste im Stress

Mehr unnötige Notrufe und längere Fahrzeiten: Das Rote Kreuz bekommt den Ärztemangel zu spüren

Von Claudia Henzler, Dietrich Mittler

Die Bayern wählen immer häufiger die Notrufnummer 112 - offenbar auch dann, wenn gar niemand in Not ist. In zehn Jahren ist die Zahl der Fälle, in denen Rettungswagen ausrückten, um mehr als 50 Prozent gestiegen: Von 639 000 im Jahr 2006 auf 981 000 im Jahr 2015. Die Ursachen müssen noch untersucht werden. Doch Stephan Prückner, Direktor des Instituts für Notfallmedizin und Medizinmanagement (INM) der Ludwig-Maximilians-Universität München, stellt fest: "Die Einsatzsteigerung geht weit über das hinaus, was demografische Fakten hergeben."

Allein mit der Tatsache, dass es mehr alte und kranke Menschen gibt, lässt sich der Trend also nicht erklären. Bisher könne man nur spekulieren, welche Faktoren verantwortlich seien, sagt Prückner. Denkbar sei, dass Menschen öfter den Notruf wählen, wenn kein Hausarzt verfügbar ist. Leonhard Stärk, der Landesgeschäftsführer des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK), sieht deutliche Hinweise dafür, dass diese These stimmt. "Da hat sich zu viel verändert", sagt er, "wenn zum Beispiel der jeweilige Arzt keine Hausbesuche mehr macht, dann wird vermehrt der Rettungsdienst gerufen." Peter Sefrin, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der in Bayern tätigen Notärzte, ist indes davon überzeugt, dass sich einfach zu viele Menschen bei Erbrechen, Fieber, Husten oder Schnupfen gar nicht um einen Arzttermin bemühten, sondern gleich den Notarzt riefen. Sefrin spricht hier von einem "sehr großen Anspruchsdenken" in der Bevölkerung. Für die Städte und Gemeinden, die den Rettungsdienst in kommunalen Zweckverbänden organisieren müssen, wird das zunehmend zum Problem. Sie rüsten ständig auf, können aber nicht immer mit dem steigenden Bedarf schritthalten.

Laut einer Antwort des Innenministeriums auf eine Anfrage des SPD-Abgeordneten Harry Scheuenstuhl kommen Rettungskräfte immer später am Einsatzort an. In Bayern sollen Rettungskräfte nach maximal zwölf Minuten Fahrzeit beim Patienten sein. Die Quote lag zwar landesweit bei etwa 90 Prozent, doch in einzelnen Gebieten wurde die kritische 80-Prozent-Marke unterschritten. Zudem, so Scheuenstuhl, sei die Quote seit dem Jahr 2013 in fast allen 26 bayerischen Rettungsdienstbereichen gesunken. Laut Statistik schnitten 2015 unter anderem die Versorgungsbereiche Weibersbrunn (Kreis Aschaffenburg) und Hengersberg (Kreis Straubing-Bogen) schlecht ab. Hier konnte die Zwölf-Minuten-Frist nur in 64, beziehungsweise 69 Prozent der Fälle eingehalten werden.

In beiden Gebieten haben die Zweckverbände bereits Maßnahmen beschlossen oder sind mit dem INM in Kontakt. Das Institut analysiert seit 1999 regelmäßige die Struktur des Rettungsdienstes in Bayern - Auftraggeber sind das Innenministerium und die Arbeitsgemeinschaft der Sozialversicherungsträger, die die Einsätze bezahlen. Die Wissenschaftler überprüfen die Einhaltung der Zwölf-Minuten-Frist. Liegt die Quote unter 80 Prozent, machen sie Vorschläge: Das kann die Verlegung einer Rettungswache sein, ein zusätzliches Fahrzeug oder mehr Personal. Auf Basis dieser Empfehlungen sei die Anzahl der Rettungsdienststandorte von 2006 bis zum Jahr 2015 von 382 auf 418 gestiegen.

BRK-Geschäftsführer Stärk quält indes noch eine Sorge: "Es nützt wenig, wenn zwar die Rettungsfrist eingehalten werden kann, die Kliniklandschaft aber so ausgedünnt wird, dass die Patienten nicht innerhalb einer Stunde im Krankenhaus sind."

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