Mehr Geld für Projekte:So kann Kindern mit ADHS geholfen werden

ADHS-Mittel Ritalin - Kardiologen für mehr Blutdruck-Kontrollen

ADHS-Kinder können die Flut der Umgebungsreize kaum verarbeiten.

(Foto: dpa)
  • Immer mehr Kinder und Jugendliche in Bayern erhalten die Diagnose ADHS.
  • Gesundheitsministerin Melanie Huml lobt die medizinischen Maßnahmen, die im Freistaat angeboten werden.
  • Doch das reicht nicht, meinen Experten - und fordern mehr Geld für Projekte.

Von Dietrich Mittler

Maxi war fünf Jahre alt, als er das erste Mal die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Kempten betrat und dort in Windeseile Brigitte Fuhrmanns Büro auf den Kopf stellte. "Innerhalb von Sekunden hat er den gesamten Raum ausgeräumt und dabei einiges zu Bruch gehen lassen", sagt die inzwischen in Kaufbeuren niedergelassene Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche. "Das war der schwierigste Fall an ADHS, den ich je hatte", sagt Fuhrmann.

Obwohl sich Maxis Eltern sehr liebevoll um ihr Kind bemühten, Maxi fiel unangenehm auf. Auch im Kindergarten. Dort saß er nie still, warf mit Bauklötzchen, schlug andere Kinder - nie aus böser Absicht, sondern als Ausfluss seines "überschießenden Temperaments".

ADHS belastet viele Familien in Bayern

Zehn Jahre lang hat Brigitte Fuhrmann Maxi (Name geändert) behandelt, schließlich aber weigerte er sich, weiterhin die verordneten Medikamente zu nehmen. "Er sagte, er wolle so sein, wie jeder andere auch", sagt Fuhrmann. Maxi geriet gar auf die schiefe Bahn, fing an zu klauen und Drogen zu nehmen. "Maxi ist nicht der Regelfall, sondern die Hardcore-Variante einer hyperkinetischen Störung", sagt Fuhrmann.

Und doch, das Problem ADHS belastet in Bayern viele Familien, wie auch Gesundheitsministerin Melanie Huml betont. "Leider ist ADHS immer noch mit einem gewissen Stigma behaftet, unter dem besonders die betroffenen Eltern zu leiden haben", sagt sie. Am Dienstag erstattete das Gesundheitsministerium im Landtag Bericht über seine jüngsten Erkenntnisse zu ADHS bei Kindern und Jugendlichen im Freistaat. Und der geriet alles andere als beruhigend: ADHS werde immer häufiger festgestellt. Die Diagnosehäufigkeit bei Betroffenen im Alter von fünf bis 14 Jahren sei in den Jahren 2008 bis 2011 von 4,6 auf 5,2 Prozent gestiegen.

Spitzenwerte in Würzburg und Umgebung

"Demnach sind in Bayern deutlich mehr als 60 000 Personen in dieser Altersgruppe betroffen", erfuhren die Mitglieder des Gesundheitsausschusses. Im Jahr 2013 hätten 633 fünf- bis 14-Jährige sogar stationär behandelt werden müssen. In der Regel aber erfolge die Hilfe für ADHS-Fälle ambulant. Bezüglich der regionalen Verteilung der Fälle werfen die vorgelegten Ergebnisse indes weitere Fragen auf.

Während etwa die Landkreise Altötting oder Garmisch-Partenkirchen 2011 mit jeweils 2,2 Prozent Anteil an den in Bayern registrierten ADHS-Fällen extrem gut dastehen, bringen es die Stadt und der Landkreis Würzburg auf Spitzenwerte von mehr als elf Prozent. Experten suchen noch nach den Ursachen dafür. Bisherige Vermutung: Es könnte daran liegen, dass in der Region Würzburg die spezialisierte ambulante ADHS-Versorgung "überdurchschnittlich" gut organisiert sei.

Vorbildliches Schulprojekt

Psychotherapeutin Brigitte Fuhrmann hat indes ihre Zweifel, ob hier mit Statistiken generell die Realität umfassend wiedergegeben wird: "Wir haben, wie bei jeder psychiatrischen Erkrankung, eine Dunkelziffer", sagt sie. Außerdem vermisse sie in einigen Studien die gebotene Trennschärfe zwischen Verdachtsdiagnose und der am Ende gestellten Diagnose. Die Autoren des vom Gesundheitsministerium zitierten Versorgungsatlasses betonten indes auf Nachfrage, ihre Daten beruhten nur auf "bestätigten Diagnosen".

Melanie Huml interpretiert die steigenden Fallzahlen jedenfalls so: "Die vergleichsweise hohe Diagnosehäufigkeit von ADHS ist auch ein Zeichen für die zunehmende Aufmerksamkeit, die Eltern sowie Lehrerinnen und Lehrer den Kindern entgegenbringen." Hier sei "Hilfe nötig - aber auch möglich", sagte sie. Es stünden erprobte medizinische, psychotherapeutische und pädagogische Maßnahmen zur Verfügung. Ganz so einfach läuft es in der Praxis dann aber doch nicht. Ein Paradebeispiel dafür ist die Josef-Zerhoch-Mittelschule in Peißenberg. Diese leistet Vorbildliches, um von ADHS betroffenen Schülern sowie ihren Eltern zu helfen.

Eltern und Lehrer an der Belastungsgrenze

"Bei uns waren im Schuljahr 2011/2012 in den 5. Klassen zehn Prozent der Schüler von ADHS betroffen", sagt Rektor Hans Socher. Kämen mehrere hyperaktive Schüler in einer Klasse zusammen, sei ein geregelter Unterricht kaum mehr möglich. Lehrkräfte und Eltern gerieten da schnell an ihre Belastungsgrenzen. "Die überforderten Eltern bringen es am Ende nicht mehr fertig, ihre Kinder in einer Therapie unterzubringen. Also muss sich da die Schule engagieren", sagt Socher.

Seine Schule entwickelte mit Experten ein Projekt, "um der Herausforderung zu begegnen". Die Kinder werden nun in der Schule therapeutisch im Umgang mit ihren ADHS-Symptomen trainiert, Eltern und Lehrer im Alltag gestützt. So weit, so gut: "Aber das Problem ist, dass Therapeuten bezahlt werden müssen, und von Staatsseite gibt es keine Mittel, um ein solches Projekt zu finanzieren", sagt Socher. Bis dato wurde das Vorzeigeprojekt, Kosten 8000 Euro, hauptsächlich von Sponsoren finanziert. Socher hofft aber, dass der Freistaat hier endlich umdenkt. Erst eine gesicherte Finanzierung garantiere, dass auch andere Schulen das Peißenberger Projekt nachahmen.

Die stillen Kinder nicht vergessen

Der jetzige Bericht aus Humls Ministerium beruht letztlich auf einem Besuch von Landtagsabgeordneten in Sochers Schule. Die Abgeordneten wollten wissen, was Sache ist. Für die SPD-Gesundheitsexpertin Kathrin Sonnenholzner steht nun fest: "Es braucht mehr solcher Angebote, die auf den Bedarf von Kindern mit ADHS eingehen." Die Grünen verwiesen in der Diskussionsrunde indes auf eine neue Studie. Die kommt zu dem Schluss, dass Ritalin - ein häufig benutztes ADHS-Medikament - "nicht so gut wirkt, wie man es sich bislang gedacht hat". Humls Haus müsse jetzt dringend dieser Studie nachgehen, forderte die Grüne Rosi Steinberger.

Maxi, jetzt gut 15 Jahre alt, wird von der aktuellen Diskussion kaum mehr profitieren. Er ist auf Entzug. Mehrmals hat er gefährliche Drogen zu sich genommen. Zweimal wurde er in letzter Minute gerettet. Die Therapeutin Brigitte Fuhrmann mahnt unterdessen, über die hyperaktiven Kinder nicht jene zu vergessen, deren Krankheitsverlauf sie zu stillen Träumern macht, zu Menschen, die sich aus der Realität wegblenden. "Ihr Problem wird oft lang übersehen", sagt sie.

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