Geschichte:Das unangepasste Land

Geschichte: Als Zeichen seiner Souveränität überdruckte der noch junge Freistaat Bayern 1919 eine Briefmarke aus der Germania-Serie des Deutschen Reichs.

Als Zeichen seiner Souveränität überdruckte der noch junge Freistaat Bayern 1919 eine Briefmarke aus der Germania-Serie des Deutschen Reichs.

Königreich, Räterepublik, Freistaat, Katholikeninsel, Europanörgler: Bayern hat sich immer schon in seiner Sonderrolle gefallen - eine der wenigen Konstanten in seiner 1500-jährigen Geschichte.

Von Hans Kratzer

Die im November 1918 einsetzende Geschichte des Freistaats Bayern ist an Kuriosität schwer zu überbieten. So imposant diese Historie aus heutiger Sicht auch erscheinen mag, über weite Strecken verlief sie unberechenbar, nicht selten sogar bizarr und verquer. Blicken wir zurück in das Frühjahr 1919, in das Geburtsstadium des Freistaats. Damals hatte der russische Revolutionär Lenin in einer Ansprache in Moskau einen speziellen Gruß nach Bayern gerichtet: "Sowjet-Russland grüßt Sowjet-Bayern!", rief Lenin, denn in jenen Tagen war Bayern für kurze Zeit eine Räterepublik, also eine Art kommunistischer Sowjetsatellit.

Lenin pries auf dem Roten Platz zwei Verbündete: die Sowjets aus Ungarn und die aus Bayern. Letztere nahmen von diesem Hirngespinst bald wieder Abstand, wobei sie jedoch von radikal links nach radikal rechts schwenkten. Schon die Anfänge des Freistaats folgten auf fatale Weise dem Motto: Es gibt hier nichts, was es nicht gibt.

Auch der ehemalige bayerische Kultusminister Hans Maier zitiert gerne diese kurze, aber unglaubliche kommunistische Ära unter dem weiß-blauen Firmament, um die weltanschauliche Flexibilität dieses Landes zu umreißen. "Bayerns Geschichte ist verwickelt und verzwickt. Sie ist nicht einfach zu erschließen", sagte Maier in dieser Woche bei einer Veranstaltung des Instituts für Bayerische Geschichte in München.

Im kommenden Jahr wird der Freistaat 100 Jahre alt, ein politisch aufgeladenes Jubiläum, das längst seine Schatten vorauswirft. Das in die Münchner Universität integrierte Institut für Bayerische Geschichte hat deshalb eine Gesprächsreihe eröffnet, deren erster Gast eben Hans Maier war. Sein Gesprächspartner, der Landeshistoriker Ferdinand Kramer, Leiter des Instituts, nannte Maier einen Zeitzeugen, der als Politiker, Philosoph und Hochschullehrer "das Jahrhundert mitgestaltet hat".

Die hundertjährige Geschichte des Freistaats habe mit einem tiefen Absturz begonnen, wie Maier es formulierte. Das seit 1806 bestehende Königreich Bayern sei im November 1918 minutenschnell zusammengebrochen. Zwei Mann hätten genügt, um die Münchner Residenz zu besetzen. Dass das Königreich in so kurzer Zeit durch eine Revolution zum Freistaat mutiert ist und etwas später zu einer Räterepublik, lässt Maier immer noch staunen. "Und das nach mehr als 700 Jahren Wittelsbacher Herrschaft", welche das Land komplett durchwirkt hatte.

Bayern als europäischer Schmelztiegel

Freilich, man kann nicht alles verstehen, was in Bayern passiert, das geht nicht nur Maier so. Gewiss ist nur, dass das Land stets ein europäischer Schmelztiegel war. Es ist vom Gemisch seiner Bewohner her zweifellos das bunteste aller deutschen Länder, was gerne verdrängt wird. Erst in diesen Tagen war in einer Zeitungskritik über die neue TV-Serie Hindafing zu lesen, hier zeige sich, dass syrische Flüchtlinge besser deutsch sprächen als die Bayern. Leichtsinnig polemisierend, ignorierte der Autor, dass die in Bayern gesprochenen Mundarten aus vielen europäischen Sprachen genährt wurden und einen weitaus stärkeren Beleg der Multikulturalität des Landes hergeben als ein Schlaumeiertum, das dringend mehr Aufmerksamkeit im Deutsch- und Geschichtsunterricht vertragen hätte.

In solche argumentativen Niederungen begibt sich ein Feingeist wie Hans Maier zu Recht nicht. Umso aufschlussreicher war die Schilderung seiner Integration in Bayern, er ist ja ursprünglich ein Freiburger Alemanne. Bayern habe von Anfang sein Interesse geweckt: "Ich spürte, das war einmal ein souveräner Staat, die breiten Straßen, die repräsentativen Gebäude und Kirchen, dazu die straffe französische Verwaltung, eingeführt von Montgelas. Das war alles anders als im kleinen Baden, über das die Franzosen unter Napoleon quasi hinüberschießen konnten."

Später bereiste Maier, der als Parteiloser Kultusminister wurde und erst 1973 in die CSU eintrat, alle Stimmkreise. Dabei habe er die Vielfalt und Eigentümlichkeiten des Landes kennengelernt, in dem aber auch das Ringen um Freiheit stets zu spüren war. Einer Freiheit, die so richtig erst wieder nach 1945 erlangt wurde. Selbst das Hadern mit dem Verlust an Selbständigkeit nach der deutschen Reichsgründung von 1871 habe nie ganz aufgehört.

Auffordernde Kraft der Religion

Auf Kramers Frage, welche Kontinuitätslinien Maier im Freistaat erkenne, nannte Maier unter anderem die monarchische Idee. Die Monarchie sei auch nach ihrem Ende stark verankert geblieben, selbst heute bilde sie noch einen gesellschaftlichen Hintergrund. Nach wie vor werde bei öffentlichen Veranstaltungen der Vertreter des Hauses Wittelsbach begrüßt. "1933 dachten manche im Widerstand gegen die Nazis über Wiedererrichtung der Monarchie nach, was aber illusorisch war." Auch die religiöse Komponente sei in Bayern stärker erhalten als in allen anderen Ländern, sagte Maier. Die Religion habe immer noch eine auffordernde Kraft, wie erst am vergangenen Wochenende die landesweite Wallfahrt zur Mariensäule in München gezeigt habe. "Wo gibt es denn so etwas noch?"

Auf Kramers Frage nach dem Charakter und der Identität des Landes, entgegnete Maier, Bayern sei keineswegs ein Monolith, vielmehr bestehe es aus verschiedenen Ethnien, die zum Teil zwangsweise eingemeindet worden sein, etwa die Schwaben und die Franken. König Max II. habe viele "Nordlichter" an die Münchner Universität geholt. Das Land habe sich immer offen gezeigt, auch Flüchtlingen gegenüber. Nach dem Krieg habe es mit die meisten Flüchtlinge aufgenommen, das habe sich später fortgesetzt.

Beim Thema Europa kam die Rede auf den ehemaligen EU-Kommissar Mario Monti, der Kramer gegenüber einmal angemerkt hatte, Bayern habe über die Bundesregierung die Sparpolitik in Europa durchgedrückt und sei damit für die Probleme der südeuropäischen Staaten mitverantwortlich. Überhaupt wird Bayerns Einfluss über den Bund auf Europa in manchen Kreisen skeptisch gesehen. Man dürfe sich Europa nicht schlechtreden lassen, sagte Maier. Es sei ein kompliziertes Gebilde, in dem es nicht gelungen sei, eine einheitliche Außen- und Militärpolitik zu entwickeln. "Die stärksten Hebel fehlen."

Trotzdem müsse sich Europa weiterentwickeln, am besten auf der Basis der Subsidiarität und des Föderalismus, die aus Erfahrung zum Selbstverständnis des Freistaats Bayern gehören. Diese Basis sowie die Verbindung von Tradition und Moderne habe Bayern Erfolg beschert. Dass die Einführung des Euro in Europa von Bayern ausgegangen sei, glaubt Maier allerdings nicht.

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