Freising:Eine Grippe als Dienstunfall

Ein Lehrer entgeht 2002 einem Amoklauf. Statt ihm starb ein anderer Lehrer. Nun wird entschieden, ob er dennoch Anspruch auf staatliche Opferhilfe hat.

Oliver Bilger

Eine Grippe hat ihm das Leben gerettet. Weil Fachoberlehrer Herbert L. am 19. Februar 2002 krank im Bett lag und nicht in seiner Schule unterrichten konnte, überlebte er einen Amoklauf. Ein ehemaliger Schüler wollte sich an ihm rächen. Statt Herbert L. starb ein anderer Lehrer.

Freising: Freising 2002: Lehrer L. sollte Opfer eines Amoklaufs werden. Dass er an diesem Tag mit Grippe im Bett lag, rettete ihm das Leben.

Freising 2002: Lehrer L. sollte Opfer eines Amoklaufs werden. Dass er an diesem Tag mit Grippe im Bett lag, rettete ihm das Leben.

(Foto: Foto: AP)

Noch heute leidet L. unter den Geschehnissen. Seit sieben Jahren versuchen Gerichte zu klären, ob der grippekranke Lehrer einen "Dienstunfall" erlitten hat, obwohl er an diesem Tag nicht in der Schule und auch nicht im Dienst war.

Am heutigen Donnerstag wird das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig über den geplanten Angriff auf den Lehrer verhandeln. Leipzig ist die dritte Instanz, die sich mit dem Fall befasst und ihn zu einem Ende bringen soll. Lehrer L. ist längst im vorzeitigen Ruhestand, bekommt aber nur ein gekürztes Ruhegehalt. Das würde sich ändern, wenn das Gericht den Amoklauf als Dienstunfall für den Grippekranken bewertet. Erwartet wird eine grundsätzliche Entscheidung.

Herbert L. sagt, er sei immer gerne Lehrer gewesen. Und er hätte seinen Beruf gerne bis zum regulären Ruhestand ausgeübt. Doch nach dem Amoklauf war das für ihn nicht mehr möglich.

Streit mit dem Lehrer

Damals, im Februar 2002, zog ein ehemaliger Schüler mit einer Waffe und Rohrbomben durch die Freisinger Wirtschaftsschule. Zuvor hatte der 22-Jährige an seinem früheren Arbeitsplatz den Betriebsleiter und den Vorarbeiter getötet. Die Vorgesetzten hatten ihn wegen Faulheit entlassen. Anschließend wollte der Täter zu seinem ehemaligen Lehrer, der ihn in Kurzschrift und Maschinenschreiben unterrichtet hatte. Mit seinem Lehrer hatte er sich gestritten, ihm gab er die Schuld, dass er später von der Schule flog. "Ich spürte eine tiefe Abneigung mir gegenüber", sagte Herbert L. damals zu Reportern.

Der Schüler wollte sich rächen. Von seinem alten Arbeitsplatz fuhr er mit einem Taxi in die Wirtschaftsschule und fragte dort nach L. Dann stürmte er das Büro des Direktors und tötete den Schulleiter. Anschließend sprengte er sich in die Luft.

Als die Polizei noch nichts von der Selbsttötung wusste, alarmierte sie Lehrer L. und teilte ihm mit, dass ein schwer bewaffneter junger Mann in der Schule sich nach ihm erkundigt hatte und zu befürchten sei, dass dieser ihn daheim aufsuchen könnte. Der Pädagoge wurde daraufhin von zwei Zivilbeamten abgeholt und auf die Freisinger Polizeistation gebracht. Später fuhr er zur Schule, um mit seinen Kollegen zu sprechen, sah den getöteten Schulleiter und verließ das Schulgelände fluchtartig.

Ein Arzt attestierte dem Lehrer danach eine posttraumatische Belastungsstörung. Die Regierung von Oberbayern erklärte ihn für vorübergehend dienstunfähig, im Frühjahr 2003 ging der Lehrer vorzeitig in Ruhestand.

Er machte Ansprüche auf Dienstunfallfürsorge geltend. Doch die Bezirksfinanzdirektion Regensburg erkannte die Geschehnisse nicht als Dienstunfall im Sinne des Beamtenversorgungsgesetz an. Die Begründung: Der Lehrer habe keinen körperlichen Schaden erlitten, da er selbst nicht in der Schule war und somit nicht angegriffen worden sei.

Herbert L. klagte am Münchner Verwaltungsgericht, das ihm recht gab: "Bei dem Ereignis vom 19. Februar 2002 handelte es sich um einen Angriff", hieß es im Urteil aus dem Jahr 2004. Doch die Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, der zweiten Instanz, waren anderer Auffassung und kippten das Urteil drei Jahre später. Eine Revision wurde zunächst nicht zugelassen.

Gabriele Schenk, die Anwältin des Lehrers, legte Beschwerde ein und so verhandelt am Donnerstag nun der Bundesverwaltungsgerichthof darüber, ob es sich um einen Dienstunfall handelt oder nicht. Entscheidend ist dabei, wie Leipzig eine Formulierung im "Gesetz über die Versorgung der Beamten und Richter des Bundes" auslegt.

Eine Sache der Auslegung

Das Gesetz regelt die finanziellen Folgen, wenn ein Beamter einen Unfall erleidet oder in den Ruhestand geht. Es geht dabei um den Paragraphen 31, Absatz 4, Satz 1 des Beamtenversorgungsgesetzes. Dort heißt es: "Dem durch Dienstunfall verursachten Körperschaden ist ein Körperschaden gleichzusetzen, den ein Beamter außerhalb seines Dienstes erleidet, wenn er im Hinblick auf sein pflichtgemäßes dienstliches Verhalten oder wegen seiner Eigenschaft als Beamter angegriffen wird."

Entscheidend ist dabei, ob der Lehrer von dem Amokläufer "angegriffen" wurde. Das Gesetz sieht vor, dass der Geschädigte am Ort der Schädigung sein muss.

Das Beamtenversorgungsgesetz könne einen Angriff jedoch anders auslegen, sagt Anwältin Schenk, und somit etwa auch über eine Entfernung hinweg. "Der Täter wollte seinen früheren Lehrer treffen." Der Angriff habe sich gegen ihren Mandanten als Lehrer gerichtet. Demnach habe es sich um einen Angriff auf den Lehrer gehandelt, auch wenn dieser zum Tatzeitpunkt mit Fieber im Bett lag.

In Leipzig wird nun eine grundsätzliches Entscheidung erwartet, die die Voraussetzungen dafür klärt, unter denen ein Dienstunfall als solcher anerkannt werden kann. Ein Präzedenzfall für künftige Streitfragen bei Dienstunfällen soll der mittelbare Amokangriff von Freising sein. Schenk ist zuversichtlich, dass die Klage des Lehrers Erfolg haben wird. Andernfalls, sagt die Anwältin, hätte das Bundesverwaltungsgericht nicht die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichthos aufgehoben und die Revision zugelassen.

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