Asylsuchender:Der Flüchtling, der zu Unrecht verdächtigt wurde

Asylsuchender: Simon Eibl (rechts), der katholische Pfarrer von Laufen, setzte sich für Ahmed Karimi vergeblich ein. Ende 2015 verließ er Deutschland.

Simon Eibl (rechts), der katholische Pfarrer von Laufen, setzte sich für Ahmed Karimi vergeblich ein. Ende 2015 verließ er Deutschland.

(Foto: Tobias Köhler)

Ein Afghane wird als Sohn eines Terroristen denunziert. Obwohl er viele Fürsprecher hat, muss er seinen Job aufgeben und zurück nach Kabul. Dort lebt der Mann in ständiger Angst vor den Taliban.

Von Bernd Kastner

Wochenlang war er nicht mehr erreichbar übers Telefon, und nun erscheint eine lange Zahl im Display, sie beginnt mit 93, dem Code für Afghanistan. Ahmed Karimi ist dran. Er sagt, er habe seine Nummer ändern müssen, wegen dieser Anrufe. Wieder die Todesdrohungen, wie früher, wieder bange er um das Leben seiner Familie. Er sagt, sie müssten wohl bald aus Kabul wegziehen. "Ich fühle mich fremd im eigenen Land."

Ahmed Karimi spricht perfekt Deutsch. Er war als Flüchtling gekommen und er würde bestimmt noch immer in Deutschland leben, wo er eine alte Dame versorgt hat, hätten ihm die Behörden nicht diesen Verdacht ins Leben gedrückt. Terrorist.

Flüchtling, Afghane, Terrorverdacht - eine explosive Mischung. Drei Jahre haben die Behörden ermittelt, herausgekommen ist: nichts. Doch der Verdacht verselbstständigte sich. Seine Jahre in Deutschland geben den Blick frei auf Behörden, die sich widersprechen und verheddern. Ausweisung? Bleiberecht? Gefährlich? Harmlos? Es spricht einiges dafür, dass der Mann von deutschen Behörden in Sippenhaft genommen wurde, ein Mann, der seit bald 20 Jahren seine Heimat sucht.

Ahmed Karimi (Name geändert) flieht 1998 aus dem Afghanistan der Taliban, da ist er 16 Jahre alt. Sein Asylantrag wird abgelehnt, aber ein Gericht gewährt ihm Abschiebeschutz. Er lebt in München, schließt die Hauptschule ab, fängt bei der Post als Zusteller an, es könnte der Start einer Integrationskarriere sein.

2004 reist er zurück nach Kabul, um zu heiraten, die Eltern haben die Ehe arrangiert, so ist es Tradition. Die Lage in Afghanistan ist gerade vergleichsweise ruhig. Wenige Wochen später fliegt er allein zurück nach Deutschland, er hofft, rasch seine Frau nachholen zu dürfen. Am Flughafen München aber ist Endstation: "Sie werden aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen", steht auf einem Papier der Ausländerbehörde. Es gebe "Anhaltspunkte", dass Karimi sich an der Vorbereitung terroristischer Anschläge beteilige.

Laut Erkenntnissen des bayerischen Landeskriminalamts (LKA) plane Karimis Familie, angeführt vom Vater, Schreckliches. Wegen seiner ethnischen Herkunft sei es "offensichtlich, dass Sie sich der gemeinsamen Tat Ihrer Familie nicht entziehen können". Was hier noch als Verdacht steht, wird im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zur angeblichen Gewissheit: Karimi beabsichtige nach seiner Rückkehr aus Afghanistan "die Umsetzung geplanter terroristischer Anschläge in Deutschland". Beweise? Keine.

Beim LKA war der Hinweis eines Informanten aus Afghanistan eingegangen, der Karimis Vater terroristischer Pläne bezichtigte, von Ahmed, dem Sohn, war nicht die Rede. Der nennt den Vorwurf eine Denunziation. Wie aber soll er seine Unschuld beweisen? Karimi, damals 22 Jahre alt, kann nicht mal mehr seine Münchner Wohnung auflösen, er muss zurück. Bis zum Jahr 2011 bleibt er in Afghanistan, vier Kinder kommen zur Welt. Die Eltern geben ihnen Namen, die sich auch in Europa gut aussprechen lassen.

Karimi fährt Taxi. Eines Tages chauffiert er einen Deutschen, Chef einer Hilfsorganisation, und dem fällt Karimis gutes Deutsch auf. Er engagiert ihn für seinen Verein, der sich um Frauen und Kinder kümmert. Bald wechselt Karimi zum Joint Venture zweier deutscher Firmen, die im Auftrag der staatlichen deutschen KfW-Bank in Afghanistan Schulen bauen. Ein verhängnisvoller Schritt.

Denn den Taliban habe diese Arbeit im Auftrag des Westens gar nicht gefallen, berichtet Karimi. Sie hätten ihn und seine Familie bedroht. "Ich rechnete jede Sekunde damit, dass etwas passiert." Manchmal habe er sich nicht im Haus zu schlafen getraut. Er kündigt den gut bezahlten Job und zieht nach Kabul, in die Anonymität der Großstadt, doch die Drohungen gehen weiter. Mehrmals wechselt er den Wohnort - und hofft auf seine Rückkehr nach Deutschland.

Dort hat inzwischen der Staatsschutz ermittelt, Telefone von ihm und Familienmitgliedern überwacht. Ohne Ergebnis. 2007 berichten die Kriminaler der Staatsanwaltschaft, dass sich der Verdacht gegen Karimi und seine Familie nicht bestätigt habe. Ohne jede Auflage wird das Verfahren eingestellt, Karimi und seine Angehörigen wurden nicht einmal vernommen. Karimi ist also unschuldig.

War's das also? Längst nicht. Wenn heute ein Verfahren nicht zur Anklage komme, sagt ein erfahrener Staatsschützer, heiße das nicht zwingend, dass der Verdächtige nicht gefährlich sei. Das macht den Ermittlern das Leben schwer, das birgt aber für jeden, der einmal unter Terrorverdacht geraten ist, die Gefahr, lebenslang abgestempelt zu bleiben. Die Unschuldsvermutung, Kerngedanke des Rechtssystems, wird ausgehebelt.

Ein Jahr, nachdem das LKA das Verfahren eingestellt hat, widerspricht sich dieses LKA selbst: Es habe zwar der "Nachweis konkreter Anschlagsplanungen im Strafverfahren nicht geführt werden" können, doch habe man "keine Zweifel" an den Angaben des Informanten. Der habe berichtet, dass Karimis Familie in Afghanistan unauffällig sei. Was entlastend klingt, wertet das LKA ganz anders: Die "öffentliche Unauffälligkeit" sei "eher ein Indiz für weitere Planungen". Terroristische Aktivitäten der Familie seien "naheliegend". Beweise? Keine.

Eine Rechtsanwältin, die ihm helfen könnte, lehnt den Fall ab

Wieder ein Jahr später, 2009, beschäftigt sich ein Gericht mit dem Fall; kein Strafgericht, sondern das Verwaltungsgericht. Karimi hat von Afghanistan aus die Stadt München verklagt, um seine Ausweisung aufheben zu lassen. Heraus kommt ein Vergleich: Karimi stimmt einer Sicherheitsüberprüfung zu; ist alles okay, darf er wieder einreisen. Das bemerkenswerte an diesem Vergleich ist der Zusatz, dass bei der neuen Überprüfung die bisherigen sicherheitsrechtlichen Erkenntnisse des LKA "nicht in die Beurteilung mehr einfließen". Die schwerwiegenden Bedenken des LKA werden weggewischt, und das nicht etwa hinter dessen Rücken: Der Vergleich wird in Anwesenheit eines LKA-Kommissars geschlossen. Ist der so gefährliche Karimi doch nicht gefährlich?

Zwei Jahre später, 2011: Er ist überprüft, die Stadt München hebt die Ausweisung auf. Weil Karimi kein Visum bekommt, nimmt er die Fluchtroute via Griechenland, zahlt einem Schleuser viel Geld. Wie viele Flüchtlinge nutzt er einen gefälschten Pass, das bringt ihm eine Geldstrafe ein. Karimi wird in einem Heim in Freilassing einquartiert. Wieder stellt er einen Asylantrag, begründet ihn mit der Bedrohung durch die Taliban, weil er für Deutsche in Afghanistan gearbeitet habe. Wieder scheitert er. Bleiben darf er trotzdem, weil er zunächst keinen Pass hat und ihn später den Behörden nicht vorlegt. Karimi will unbedingt bleiben, will seine Familie nachholen. Die Taliban sind wieder stark, der Vater will seinen Töchtern eine sichere Zukunft ermöglichen.

Sein früherer Arbeitgeber, die Post, hat ihn wieder eingestellt, sein Führungszeugnis vom Bundesamt für Justiz ist ohne Eintrag. Für einen Asylhelferkreis und einen Arzt dolmetscht er, erklärt anderen Flüchtlingen das Leben in Deutschland. Mit seiner Familie kommuniziert er via Skype, so sieht er seine Kinder groß werden. Ahmed Karimi hofft nun auf die bayerische Härtefallkommission. Dutzende Fälle legt die Kommission jedes Jahr dem Innenminister vor, die Erfolgsquote liege bei 100 Prozent, berichtet Bettina Nickel. Der Rechtsanwältin wird als Vertreterin der katholischen Kirche der Fall Karimi angetragen. "Ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht", sagt sie. "Aber am Ende war mir das zu heiß." Nicht auszudenken, wenn der Mann irgendwann doch eine Bombe zünde. Sie lehnt den Fall ab. Der Verdacht wirkt weiter, ohne jeden Beweis.

Karimi bleibt nur noch der Petitionsausschuss des Landtages. Dem liegen zahlreiche Unterstützerschreiben vor von Deutschen, die Karimi kennen. Er ist so verwurzelt und beliebt in seiner bayerischen Heimat, dass sich viele für ihn einsetzen: Sein Chef bei der Post und 69 Kollegen, der CSU-Bürgermeister von Laufen und dessen SPD-Kollege aus Fridolfing, die ihn als Postzusteller kennen, der evangelische Pfarrer und der katholische. Der heißt Simon Eibl und hält Karimi für "ein typisches Opfer von Missverständnissen". Sogar der bayerische Verfassungsschutz hat "keine Bedenken" gegen eine Aufenthaltserlaubnis.

Doch der Stempelabdruck "Terrorverdacht" verblasst nicht. 2014 diskutieren die Abgeordneten im Petitionsausschuss über Ahmed Karimi, und jetzt, sieben Jahre nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens, ist plötzlich von "Anklage", ja, "Mordanklage" gegen Karimi die Rede. Eine Abgeordnete verwendet diese Begriffe, dabei sollte sie wissen, dass Karimi keines Mordes beschuldigt wurde, es gibt ja auch keinen Toten. Erst im Gespräch mit der SZ bemerkt sie ihren Fehler, der längst im Landtagsprotokoll verewigt ist. Der Ausschuss vertagt sich in den November 2015. Da spricht dann eine Beamtin des Innenministeriums von "Verabredung zu Mord und der Vorbereitung eines Sprengstoffanschlags". Zwar sei der Petent nicht verurteilt, aber der Verdacht sei "nicht revidiert" worden. Würde das stimmen, warum lässt der Staat diesen Mann unbehelligt?

Der angebliche Gefährder hat derweil gezeigt, was er unter Integration versteht. Er zieht in Laufen an der Salzach bei Frau P. im ersten Stock ein. Sie ist 93 Jahre alt und gebrechlich. Wäre Karimi nicht, sie hätte ins Heim umziehen müssen, jetzt versorgt der Afghane die alte Frau. "Er ist ein außergewöhnlicher Mensch", hat sie dem Petitionsausschuss geschrieben und gebeten, dass er bleiben darf. Der Landtag aber sagt nein mit den Stimmen von CSU und Freien Wählern. Sie halten ihn nicht für einen Schutzbedürftigen, sondern eher für einen "Gastarbeiter".

Am Sonntag nach Weihnachten 2015, kurz vor seinem 34. Geburtstag, fliegt Ahmed Karimi nach Afghanistan. Jahr um Jahr hatte er ohne Familie ausgehalten, in der Hoffnung, Frau und Kinder bald in die Sicherheit holen zu dürfen. Zurück in Afghanistan bemüht er sich um einen Dolmetscherjob für die Bundeswehr, vergebens. Nach ein paar Monaten gehen wieder die Anrufe ein, erzählt er. Man drohe, ihn und seine Familie umzubringen, weil er sich mit den Deutschen eingelassen habe. Karimi schickt jetzt seine Töchter nicht mehr zur Schule in Kabul.

Herbst 2016, Karimi hat wieder eine neue Telefonnummer. Und wieder berichtet er von seiner Angst, und dass er gerade versucht habe, mit Familie in die Türkei zu kommen, in Iran aber habe man sie zurückgeschickt. Er hat sein Haus in Kabul verkauft, um sich die neue Flucht zu leisten. Seine Frau ist erneut schwanger, achter Monat, sie wollen es nochmals versuchen, gemeinsam. Wohin? Irgendwohin, sagt er. "Ich muss weg, ich kann hier nicht bleiben." Deutschland? Vielleicht. "Heimat ist da", hat er vor seinem Abflug aus München gesagt, "wo man in Frieden leben kann."

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