Erschreckende Statistik:Fast jeder Vierte in Nürnberg ist von Armut bedroht

Armutsrisiko in Nürnberg: Bei der Vesperkirche in Nürnberg wird Essen an Bedürftige vergeben.

Für einen symbolischen Beitrag von einem Euro bekommen Gäste im Januar 2018 in der evangelischen Gustav-Adolf-Gedächtniskirche in Nürnberg ein Mittagessen.

(Foto: dpa)
  • Unter den deutschen Großstädten mit mehr als 500 000 Einwohnern sind nur die Menschen in Dortmund noch mehr von Armut bedroht als die Nürnberger.
  • Fast jeder vierte Nürnberger verfügt über weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens.
  • Seit Beginn der Amtszeit von Oberbürgermeister Ulrich Maly (SPD) ist die Arbeitslosenquote um die Hälfte gesunken.

Von Olaf Przybilla, Nürnberg, und Dietrich Mittler

Nürnbergs Oberbürgermeister Ulrich Maly (SPD) macht keinen Hehl daraus, dass er schlucken musste, als er die Zahlen sah. Unter den deutschen Großstädten über 500 000 Einwohnern sind nur die Menschen in Dortmund noch mehr von Armut bedroht als die Nürnberger. Fast jeder vierte Nürnberger verfügt demnach über weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens.

Natürlich: Eine Armutsgefährdungsquote, wie das in der Sozialstatistik heißt, von 23,3 Prozent bedeutet beileibe nicht, dass ein Viertel der Stadtbevölkerung auf Essen von der Tafel angewiesen oder gar obdachlos ist. Es geht um relative Armut. Aber diese bedeutet eben schon, dass etwa ein Single über weniger als 1025 Euro im Monat verfügt. Dass da nach Abzug von Strom, Heizung und Miete womöglich nicht viel übrig bleibt, mag man sich ausrechnen. Maly ist einer, der sich den inneren Zusammenhalt der Stadtgesellschaft auf die Fahnen geschrieben hat. "Diese Zahl lässt uns keine Ruhe", sagt der Sozialdemokrat.

Der Respekt der bayerischen Wohlfahrtsverbände ist ihm damit sicher. "Ulrich Maly macht es richtig. Er geht angesichts dieser beunruhigenden Zahlen in die Offensive", sagt Thomas Beyer, der Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Bayern. Nürnberg leide noch immer unter dem Strukturwandel der dortigen Wirtschaft, die einmal durch Firmennamen wie Grundig, Quelle, MAN und AEG geprägt war.

Aber auch das ist wahr: Als Stadt der Reichen und Schönen galt die Halbmillionenkommune im Norden des Freistaats noch nie. Gleichwohl wähnte man sich grundsätzlich auf einem guten Weg. Seit Beginn der Amtszeit Malys ist die Arbeitslosenquote um die Hälfte gesunken auf derzeit 5,7 Prozent. Ende der Neunzigerjahre lag sie zum Teil bei mehr als 13 Prozent - und das war vor dem Niedergang von Grundig und Quelle. Und trotzdem steht am Ende dieser Wert: vorletzter Platz unter allen deutschen Großstädten.

Freilich macht das Angst. Doch Armut, so betont AWO-Chef Beyer, sei nicht allein ein Nürnberger Problem. Viele der Problemgruppen wie Alleinerziehende, Alte oder auch Geringverdiener gebe es auch in anderen bayerischen Städten. Armut zeige ihr Gesicht gerade in den Städten oftmals deutlicher als im ländlichen Raum. Aus Sicht von Landes-Caritasdirektor Bernhard Piendl hat das seinen guten Grund. Armut sei "immer auch relativ". Jemand mit geringem Einkommen finde auf dem Land "deutlich geringere Lebenshaltungskosten vor als jemand in der Stadt". Die Wohnraumknappheit dort belaste längst auch Menschen mit mittlerem Einkommen.

Maly wird also womöglich nicht das einzige Stadtoberhaupt bleiben, das dazu Stellung beziehen muss. Am Mittwoch, als es um die Zahlen geht, muss er sich fragen lassen, ob er nun um den Ruf der Stadt fürchte. Zumal das Risiko, in Nürnberg arm zu werden, fast doppelt so hoch ist wie im bayerischen Durchschnitt. Nein, antwortet Maly, um den Ruf Nürnbergs fürchte er nicht. Dass die Stadt begehrt ist, zeigt sich schon an den steigenden Einwohnerzahlen. Aber es nutze alles nichts: Man könne "die Statistik nicht schönreden", sagt er.

Nürnbergs Sozialreferent Reiner Prölß versucht sich also an Antworten, warum das Armutsrisiko in Nürnberg so signifikant hoch ist - und die Zahlen immer noch steigen: Seit 2012 ist es von damals 17,4 Prozent ständig gestiegen. Da ist die "Zunahme an Studenten in Nürnberg", die natürlich zu den Geringverdienern gehören. Das Bildungsniveau in Nürnberg liegt dennoch deutlich unter dem anderer bayerischer Städte. Nürnberg braucht also mehr Absolventen, an Realschulen wie an Gymnasien, und die Stadt fordert das immer wieder.

Dass in der Halbmillionenstadt durchschnittlich auch weniger verdient wird als in anderen bayerischen Städten, kommt als Problem hinzu. Maly sieht das als Erbe "der alten Industrie- und Arbeiterstadt Nürnberg", die als solche von der Digitalisierung härter getroffen wird als andere. Digitalisierung trifft auf dem Arbeitsmarkt vor allem die sogenannten mittleren Schichten - die Kluft zwischen akadamischer Arbeit und einfacherer Hilfsarbeit wird also größer. "Vielleicht trifft es da eine alte Arbeiterstadt etwas früher und prototypisch für ganz Deutschland", sagt Maly.

So weit braucht man aber gar nicht in die Zukunft zu gehen. "Armut ist auch für uns ein Thema", heißt es zum Beispiel bei der Allgemeinen Sozialberatung der Caritas in Augsburg. Zwei Themen seien signifikant: die verzweifelte Suche nach bezahlbarem Wohnraum und die prekären, sprich schlecht bezahlten Arbeitsverhältnisse. Komme beides zusammen, so führe das zu schlimmen Situationen. "Die Mietsumme, die vom Jobcenter übernommen wird, findet sich auf dem freien Markt gar nicht mehr", heißt es. Und das treibe Hartz-IV-Empfänger noch mehr in Geldsorgen.

Die Folge ist oftmals Neid gegenüber jenen, denen es vermeintlich besser geht. Dem baut Nürnbergs Sozialreferent Prölß gleich einmal vor. An einem nämlich lägen die schlechten Zahlen definitiv nicht: an der Zuwanderung durch Geflüchtete. Zwar ist die Zahl der Ausländer und Menschen mit Migrationshintergrund mit 40 Prozent überdurchschnittlich hoch im Vergleich mit den meisten deutschen Großstädten. Das Armutsrisiko wurde aber zuletzt im Jahr 2016 gemessen - also vor dem starken Zuwachs an Flüchtlingen in Nürnberg.

Bayerns Wohlfahrtsverbände wollen dem Problem Armut im Jahr der Landtagswahl mehr Gewicht geben. Anfang März machte die Diakonie in Bamberg mit einer Veranstaltung zur Altersarmut den Anfang. Am 13. April will die AWO in Stadtbergen auf die Kinderarmut in Bayern hinweisen, am 27. April die Caritas in Regensburg auf die Wohnraumknappheit und das Armutsrisiko. "Zimmer auf der Straße, wird diese Aktion übertitelt. Im Mai und im Juni folgen weitere Veranstaltungen - etwa des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ("Arm trotz Arbeit") sowie des Bayerischen Roten Kreuzes ("Armut und Behinderung"). "Der eigentliche Skandal", so betont AWO-Chef Beyer, "ist aber, dass wir seit vielen Jahren schon auf die Armut im reichen Bayern hinweisen. Seitens der Staatsregierung gilt leider: Da hat sich bislang gar nichts getan."

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