Energiewende:Was das Aus von Grafenrheinfeld bedeutet

Atom

SZ-Grafik: Lisa Bucher; Quelle: Eon, Bayerisches Landesamt für Statistik, eigene Recherche

  • Am 27. Juni geht das AKW Grafenrheinfeld vom Netz. Im Vorfeld reagierten bayerische Wirtschaftsbosse angespannt ob der vermeintlichen Stromengpässe durch den Wegfall des Kraftwerks.
  • Dass Grafenrheinfeld nun umstandslos verzichtbar ist, liegt vor allem daran, dass Deutschland Strom im Überfluss produziert.
  • Die gigantischen Zuwächse bei Solarstrom und Windkraft sind der Grund, warum es nicht zu Stromengpässen kommen wird.

Von Christian Sebald

Wenn es um die Energiewende geht, reagieren Bayerns Wirtschaftsbosse für gewöhnlich nervös und angespannt. Bertram Brossardt etwa, der wortgewaltige Geschäftsführer des Lobby-Verbands VBW, hat bis vor Kurzem bei jeder Gelegenheit Schreckensszenarien von flächendeckenden Blackouts, Leitungsengpässen und anderen Stromkatastrophen ausgemalt, wenn er auf die Abschaltung des Atomkraftwerks Grafenrheinfeld zu sprechen kam.

Nun steht das Ende von Grafenrheinfeld bevor. Kommenden Samstag geht der Reaktor vom Netz. Die Politik debattiert zwar gerade aufgeregt über die Zwischenlagerung einiger Castoren aus der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague im niederbayerischen Essenbach. Der viel wichtigere Termin ist aber der 27. Juni: Dann ist Schluss mit der Produktion von Atomstrom in Unterfranken. Nach dem Aus für Isar 1 am 17. März 2011 ist der nächste Samstag der zweite Meilenstein auf dem Weg ins atomkraftfreie Bayern.

Kein Wort zum Ende des Atomkraftwerks

Man möchte meinen, jetzt, da es ernst wird mit dem Aus für Grafenrheinfeld, sind Brossardt und Co. höchst angespannt. Aber das ist nicht der Fall. Als die Lobbyisten unlängst mit CSU-Chef Horst Seehofer zusammensaßen, debattierten sie über alles Mögliche, nur nicht über Grafenrheinfeld. Das Ende der Anlage kam mit keinem Wort mehr zur Sprache. Und zwar obwohl man in der Runde auch über die Energiewende und ihre Schwierigkeiten sprach.

Atomkraftwerk Grafenrheinfeld

Am 27. Juni geht das AKW Grafenrheinfeld vom Netz.

(Foto: Daniel Karmann/dpa)

In der Politik ist ebenfalls alles ruhig. Wirtschafts- und Energieministerin Ilse Aigner (CSU) reagiert sogar betont gelassen, wenn man sie auf das Aus von Grafenrheinfeld anspricht. "Das geht ganz reibungslos", sagt sie. "Niemand, kein Unternehmen, kein Privatmann, wird spüren, dass der Reaktor vom Netz ist." Die Landtagsgrünen sehen das nicht anders. "Die Abschaltung von Grafenrheinfeld ist für die Stromversorgung ohne Bedeutung", sagt Fraktionschef Ludwig Hartmann.

10,5 Millionen Kilowattstunden Strom produzierte Grafenrheinfeld

Wie kann das sein? Erst jahrelang höchste Aufregung und jetzt komplette Entwarnung. Grafenrheinfeld ist einer der stärksten Reaktoren der Welt. Die 1345-Megawatt-Anlage war seit Ende 1981 Eckpfeiler der Energiewirtschaft in Bayern. 10,5 Milliarden Kilowattstunden Strom produzierte Grafenrheinfeld im Jahr: genug für 3,8 Millionen Haushalte.

Aber nicht nur das. Grafenrheinfeld ist wie alle Atomanlagen ein Grundlastkraftwerk. Anders als Windräder oder Solarmodule produziert es seinen Strom sehr konstant und zuverlässig. Das ist wichtig für die Stabilität des Leitungsnetzes und die Sicherheit der Stromversorgung.

Dass Grafenrheinfeld nun umstandslos verzichtbar ist, liegt vor allem daran, dass Deutschland Strom im Überfluss produziert. Die Branche bricht einen Exportrekord nach dem anderen. 2012 flossen 23,1 Milliarden Kilowattstunden Strom in die Nachbarländer, hauptsächlich nach Österreich, in die Schweiz und die Niederlande. 2013 waren es 33,8 Milliarden, vergangenes Jahr 35,5 Milliarden.

Deutschland kann seine Exportrekorde sogar noch brechen

Zwar führt die Abschaltung von Grafenrheinfeld zu einer Exportdelle. Schließlich braucht Deutschland seinen Exportstrom nun vermehrt selbst. Aber die Delle dürfte nur kurz anhalten und klein sein. Einige Experten rechnen sogar damit, dass Deutschland seine bisherigen Exportrekorde bald erneut bricht. Die Ursache ist der Erfolg der Windkraft und der Photovoltaik.

2014 wurden in Deutschland 1766 neue Windräder aufgestellt. Ihre Gesamtleistung: 4750 Megawatt. Rein rechnerisch sind das dreieinhalb Atomkraftwerke von der Leistung Grafenrheinfelds. Am Jahresende 2014 drehten sich in Deutschland knapp 25 000 Windräder mit 38 000 Megawatt Gesamtleistung. 2015 und 2016 werden Anlagen mit 3300 bis 3600 Megawatt Gesamtleistung hinzukommen - pro Jahr. Die Produktion von Sonnenstrom legte ebenfalls gewaltig zu. 2014 flossen knapp 35 Milliarden Kilowattstunden Sonnenstrom ins deutsche Leitungsnetz, 12,6 Prozent mehr als im Jahr zuvor.

Windkraft und Solarstrom kompensieren den Wegfall des Atomstroms

Diese gigantischen Zuwächse sind der Grund, warum es kaum Verschiebungen geben wird in dem Kraftwerkspark, der künftig zum Einsatz kommt. Kritiker der Energiewende führten lange an, mit jedem AKW, das vom Netz geht, würden vermehrt alte Kohle- oder Gasanlagen reaktiviert. Das wird nicht geschehen, zumindest nicht in spürbarem Ausmaß. Windkraft und Solarstrom haben das Potenzial, den Wegfall des Atomstroms aus Grafenrheinfeld zu kompensieren.

Auch die Sicherheit der Stromversorgung bleibt gewährleistet. Blackouts und Leitungsengpässe wegen der Abschaltung werden nicht passieren. Der Netzbetreiber Tennet hat längst alle wichtigen Netzknotenpunkte aufgerüstet und verstärkt. Und die Bundesnetzagentur hat wegen der Abschaltung Reservekraftwerke mit 550 Megawatt Gesamtleistung geordert. Sollte einmal - warum auch immer - nicht genug Strom von Norddeutschland in den Freistaat fließen, springen sie sofort an.

Über die Thüringer Strombrücke fließt Windstrom nach Bayern

Diese Reservekraftwerke werden nur bis Mitte 2016 benötigt. Dann geht die Thüringer Strombrücke in Betrieb. Sie schließt die letzte, 30 Kilometer kurze Lücke einer Starkstromleitung von Sachsen-Anhalt nach Grafenrheinfeld. Durch sie können Unmengen Windstrom aus Ostdeutschland nach Bayern fließen, die bisher nicht oder nur über Umwege hierher gelangen.

Bleibt die Frage nach dem Strompreis. Auch da geben Experten Entwarnung. Der Strompreis an der Leipziger Strombörse ist seit dem Start der Energiewende um die Hälfte gefallen. Zuletzt lag er zwischen drei und dreieinhalb Cent je Kilowattstunde. Für die Zeit nach Grafenrheinfeld wird die Kilowattstunde in Leipzig derzeit mit etwa 3,2 Cent gehandelt. Nichts deutet darauf hin, dass sich daran etwas ändert.

Der Grünen-Politiker Hartmann sagt denn auch, dass man den Zeitplan für den weiteren Atomausstieg straffen könnte: "Die gefährlichen Reaktoren in Gundremmingen könnten sehr viel schneller vom Netz." Ministerin Aigner sagt, die problemlose Abschaltung zeige, dass der Atomausstieg wie geplant vorangehen wird. "Wir werden nie am Atomausstieg rütteln, allen Schwierigkeiten der Energiewende zum Trotz", sagt Aigner. "2022 geht das letzte Atomkraftwerk vom Netz."

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