Donald Stellwag:Das Leben, ein Gefängnis

Donald Stellwag saß fast fünf Jahre lang unschuldig hinter Gittern. Jetzt verdächtigt ihn die Polizei wieder eines Verbrechens.

Olaf Przybilla

Am 19. Dezember 1991 ließ sich ein Mann mit dem Taxi zu einer Sparkasse in der Nürnberger Scharrerstraße chauffieren. Er bedrohte eine Kassiererin mit einer Pistole und forderte sie auf, eine Tüte mit Geld zu füllen. Auf den Bildern, die später bei Aktenzeichen XY ausgestrahlt wurden, sah man eine auffällig große und dicke Person.

Donald Stellwag: Aufgrund eines Kamerabildes wurde Donald Stellwag zu vier Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Doch der Mann auf dem Foto war ein anderer. Der Gerichtsgutachter musste 150.000 Euro Schmerzensgeld an Stellwag zahlen.

Aufgrund eines Kamerabildes wurde Donald Stellwag zu vier Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Doch der Mann auf dem Foto war ein anderer. Der Gerichtsgutachter musste 150.000 Euro Schmerzensgeld an Stellwag zahlen.

(Foto: dpa)

Ein Polizist aus Schweinfurt sah diese Sendung und meldete, dass es sich bei dem Mann mit Hut und Sonnenbrille um Donald Stellwag handeln könnte, einen hochgewachsenen und schwergewichtigen Mann aus einem Dorf bei Würzburg. Stellwag hörte von diesem Verdacht und betrat wenig später freiwillig das Polizeipräsidium in Nürnberg. Er lachte, denn er wusste ja, dass er sich zur Tatzeit im Hotel "B 91" in Leuna aufgehalten hatte, mehr als 200 Kilometer weit entfernt von der Sparkasse in Nürnberg. Am 16. Februar 1994 wurde Stellwag gleichwohl zu vier Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, wegen räuberischer Erpressung.

Stellwag wurde dort eingesperrt, wo Schwerverbrecher in Bayern eingesperrt werden, in der Justizvollzugsanstalt Straubing. Er verbüßte dort die gesamte Haftzeit. Würde er sich mit seiner Tat "identifizieren", so sagte man ihm, so könne man ihn früher aus der Haft entlassen. Aber einräumen müsse er die Tat, das sei die Bedingung. Stellwag lehnte das ab. Genau drei Wochen nach seiner Entlassung wurde ein großer und dicker Mann gefasst, der gerade eine Bank überfallen hatte. Mehrere weitere Überfälle konnten ihm nachgewiesen werden. Bei der Gelegenheit gestand er, dass er auch die Sparkasse in der Scharrerstraße überfallen hatte. Also nicht Stellwag.

Der Fall hat Rechtsgeschichte geschrieben. Im Oktober 2007 verurteilte das Frankfurter Oberlandesgericht einen Gerichtsgutachter dazu, 150000 Euro als Schmerzensgeld an Stellwag zu zahlen. In einer solchen Höhe war das bislang nicht vorgekommen. Der Humanbiologe, spezialisiert auf vergleichende anthropologische Analysen, hatte den dicken Mann auf den Bildern in der Sparkasse mit Stellwag verglichen. Teile seines Gutachtens hat Stellwag in der Haft auswendig gelernt. "Auch das Ohrläppchen des Angeklagten stimmt in Anwachsungsgrad und Verlauf vollkommen mit dem Ohrläppchen...", solche Sätze.

Nachdem Stellwag vollständig rehabilitiert war, hat er seine Geschichte sehr oft erzählen dürfen, in Talkshows konnten sie nicht genug bekommen. Sein vorerst letzter großer Auftritt geriet besonders eindrucksvoll. Im April 2009 berichtete Stellwag bei "Kerner" noch einmal, wie das ist, wenn man zugeben soll, etwas getan zu haben, was man nicht getan hat. Welche Qualen man leidet. "Dieser Gutachter hat meine Seele zerstört", hat Stellwag immer wieder gesagt. Bei "Kerner" saß ein pensionierter Richter neben ihm, der einen angeblichen Taxiräuber zu Unrecht verurteilt hatte.

Verdacht der räuberischen Erpressung

Donald Stellwag redete bald mit Routine in den Talkshows. Manchmal hatte man den Eindruck, das Reden hilft ihm, sein Schicksal zu verarbeiten. Wer den 52-Jährigen in diesen Tagen besuchen will, in seiner Wohnung in einem Fachwerk-Städtchen im Nürnberger Land, dem ist kein Erfolg beschieden. Das Klingeln bleibt unerhört. Stellwag hat Reporter oft empfangen, auf dem Tisch dampfte das Essen, er saß in einem massiven Holzstuhl mit hoher Lehne und erzählte vom Leben nach der Haftanstalt. Jetzt aber schweigt er. Gegen ihn liegt ein Haftbefehl vor, der nur deshalb nicht vollzogen wird, weil Stellwag krank ist. Der Grund, warum ermittelt wird gegen ihn, liest sich wie ein sehr makaberer Witz. Stellwag steht im Verdacht, sich der räuberischen Erpressung schuldig gemacht zu haben - jenes Vergehens also, für das er schon einmal fast fünf Jahre hinter Gittern saß, damals unschuldig.

Kurz vor Weihnachten 2009 ist ein Goldtransporter auf der Fahrt von Neumarkt nach Pforzheim in der Nähe von Ludwigsburg überfallen worden. Die Täter hatten sich als Polizisten verkleidet, sie erbeuteten Schmuck im Wert von 1,8 Millionen Euro. Davon fehlt jede Spur. Nach abenteuerlicher Flucht aber ist einer der mutmaßlichen Haupttäter gefasst worden, mit ihm vier seiner Komplizen, die Spur führte bis in den Irak. Vor drei Monaten klingelten die Fahnder das erste Mal bei Stellwag. Er werde als Zeuge vernommen, sagte man ihm. Stellwag berichtete, dass er das Opfer kenne - und, ja, auch die mutmaßlichen Täter.

"Einfach nur erschüttert"

Später wurde Stellwags Wohnung durchsucht. Es muss eine beklemmende Situation gewesen sein, für beide Seiten. Immerhin war es die Kriminalpolizei Nürnberg, die einst gegen Stellwag ermittelt hatte. Zwar hatte einer der Beamten immer wieder zu erkennen gegeben, dass er Stellwag für völlig unschuldig halte - es hatte schließlich Zeugen gegeben, die ihn gesehen hatten in dem Hotel in Leuna, am Tag der Tat. Am Ende aber hatte das alles nichts genützt vor Gericht, der wissenschaftliche Gutachter schien die besseren Argumente zu haben.

Stellwag wird nicht verdächtigt, den Transporter selbst überfallen zu haben. Der Gedanke wäre auch absurd. Der 52-Jährige leidet an zwei Gehirntumoren und an Diabetes. Auf einem Auge ist er erblindet, Glasknochen hindern ihn daran, sich flink bewegen zu können. Stellwag hat das in den Talkshows immer wieder dargelegt. Es war meist die Stelle, an der die anderen Gäste nicht mehr wussten, in welche Ecke sie schauen sollten, vor lauter Fassungslosigkeit über das Schicksal dieses Menschen.

Stellwags Geschichte wirkt wie ein Dürrenmatt-Drama. Dass er vor 25 Jahren Masse ansetzte, lag an den 150Milligramm Cortison, mit denen sein erster Tumor bekämpft werden sollte. Hätte er das Cortison nicht gebraucht, dann wäre ein Polizist aus Schweinfurt wohl nie auf den Gedanken gekommen, dass es sich bei dem großen Dicken mit der dunklen Brille um Donald Stellwag aus einem unterfränkischen Dorf handeln könnte. Stellwag war dem Beamten wohl bekannt: als unehelicher Sohn eines US-Soldaten; als Sohn einer Mutter, die an Gelbsucht starb, als Stellwag ein Jahr alt war; und als ein Mensch, der nach einer Kindheit ohne Eltern manchmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten war.

Jetzt, ein halbes Jahr nach dem Überfall auf den Goldtransporter, verdächtigt ihn die Stuttgarter Staatsanwaltschaft, die Täter über die Details der Fahrt auf dem Laufenden gehalten zu haben. Sein Anwalt Manfred Neder sagt, Stellwag bestreite gar nicht, mit den Beteiligten des Millionen-Coups Kontakte gepflegt zu haben. Schließlich kenne man sich untereinander in der Szene der Goldhändler.

In der Erklärung der Staatsanwaltschaft wird Stellwag als "Schmuckhändler" bezeichnet. Sein Anwalt hält das für unpräzise. Stellwag gehe lediglich jenem Mann ein wenig zur Hand, der ihn pflegt, aus gegenseitiger Verbundenheit. Im Grunde aber sei es der Pfleger, der mit Schmuck handele. Dass Stellwag den Tätern erzählt haben könnte, wann der Goldtransporter gestartet ist, das sei nicht auszuschließen. "Vielleicht hat mein Mandant das ausgeplaudert", sagt Neder, "aber das war kein Geheimnis."

Die Staatsanwaltschaft schweigt

Würde ein Haftbefehl gegen eines der berühmtesten Justizopfer Deutschlands erlassen, ohne harte Indizien? Die Staatsanwaltschaft schweigt über die Details. Nur so viel sagt eine Sprecherin: Der Soko "Gold" lägen Hinweise vor, dass "der Schmuckhändler als Hinweisgeber" in den Fall verwickelt sei. In Nürnberg sei der Haftbefehl allerdings umgehend außer Vollzug gesetzt worden, denn der Verdächtigte sei momentan nicht haftfähig. Stellwags Anwalt erklärt: "Mein Mandant befände sich nun wieder in Untersuchungshaft, wenn er nicht so krank wäre." In Untersuchungshaft saß Stellwag schon einmal. Zweieinhalb Jahre lang, vor dem fatalen Urteil des Nürnberger Landgerichts im Jahr 1994. Der Anwalt macht eine Pause, dann sagt er: "Es gibt Sachen, die glaubt man nicht."

Stellwag wohnt im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses. Am Briefkasten im Flur hängt ein Zettel. Päckchen für Stellwag sollen in der Boutique nebenan abgegeben werden. Die Geschäftsinhaberin nimmt die Post entgegen, seit Stellwag sich nicht mehr gut bewegen kann. Sie sei "einfach nur erschüttert" über den neuen Haftbefehl gegen ihren Nachbarn, sagt sie. 20.000 Euro hatte Stellwag vom Freistaat Bayern bekommen, als Ersatz für knapp fünf Jahre verlorener Lebenszeit. Der Justizirrtum gilt damit offiziell als abgegolten. Würde Stellwag wieder verurteilt, wieder wegen räuberischer Erpressung, würde ihm nichts angerechnet.

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