Die Geschichte der Familie Weiß:Mein Vater, mein Todfeind

Schläge, Hunger, Vergewaltigung: Der Vater war ein Sadist, der am hemmungslosesten seine Frau und seine sieben Kinder schikanierte. Seit 40 Jahren ist er nun schon tot, doch die Gedanken kreisen noch immer um die Schrecken ihrer Kindheit. Die Geschichte der Familie Weiß zeigt die Kehrseite des bäuerlichen Lebens in Bayern.

Hans Kratzer

Mitte Juni 1971 fasst der ortsbekannte Säufer und Verbrecher Ludwig Weiß den Entschluss, seinen Klinikaufenthalt in Passau auf eigene Verantwortung zu beenden. In den folgenden Tagen irrt er ziel- und ruhelos durch das Rottal. Die Spur des 52-Jährigen findet sich erst wieder, als er in der Nähe von Bad Birnbach querfeldein zu einer abgelegenen Hütte marschiert. Dort reckt er sich auf die Zehenspitzen, hängt die Enden seiner am Hals verknoteten Krawatte in einen an der Wand befestigten Nagel und lässt sich in die Knie sinken. Das Sterben des Ludwig Weiß an jenem 25. Juni 1971 war genauso trostlos wie sein Leben, in dem es keine Freude gab, keine Herzlichkeit, kein Erbarmen. Und am Ende nur Selbsthass.

Die Geschichte der Familie Weiß: Jahrelang litten die Mutter und ihre sieben Kinder unter dem brutalen Vater. Als die Nachricht vom Tod des Tyrannen kam, waren sie zum ersten Mal "uneingeschränkt glücklich".

Jahrelang litten die Mutter und ihre sieben Kinder unter dem brutalen Vater. Als die Nachricht vom Tod des Tyrannen kam, waren sie zum ersten Mal "uneingeschränkt glücklich".

Weiß war wegen seiner Brutalität berüchtigt. Ein Sadist, der am hemmungslosesten seine Frau und seine sieben Kinder schikanierte. 40 Jahre ist er nun tot, aber die Gedanken der Schwestern Angela Schmidt und Christine Rubner kreisen immer noch um diesen Mann, der ihr Vater war und der Schrecken ihrer Kindheit. Das Wort Vater vermeiden die Frauen tunlichst. Sie nennen ihn lieber Weiß. Manchmal sagen sie auch "unser biologischer Erzeuger". Für sie war er nichts als ein Tyrann, der sie geschlagen und vergewaltigt hat. "Und das bisschen Geld, das wir besaßen, hat er im Wirtshaus versoffen", erzählen die Frauen fast beiläufig, während sie in der Küche von Christine Rubner in Ittling bei Straubing das Mittagessen zubereiten.

Der Duft aus dem Ofen verrät, dass hier ausgezeichnete Köchinnen am Werk sind. Solche, die von klein auf gelernt haben, aus kargen Zutaten ein Essen zuzubereiten. Der Hunger war ihr Begleiter, der Vater nahm die Not seiner Familie regungslos hin. "Er schaute nur auf sich", sagt Christine Rubner. Und er ließ es geschehen, dass seine unbescholtene Frau und seine Kinder in seinem Sog als "Asoziale und Dahergelaufene" beschimpft wurden. Die Wohnungskommission erschwerte ihr Los noch zusätzlich, indem sie die Familie in abseitigen Weilern und Einöden einquartierte, wo ihr oft Ablehnung und Hass entgegenschlug.

Im Fall Weiß kulminiert das ganze Familienelend der Provinz. In den vergangenen Jahrzehnten wurde dieses Problem in einer Reihe von Büchern dokumentiert. Es ist dieser geradezu brutale Gegensatz: Einerseits wird die Heimat in ihrer Ursprünglichkeit oft als Idylle verklärt, weil dort der bäuerliche Jahreslauf klar geordnet, die Natur intakt und das Leben noch gemächlich war. Unzählige Heimatdichter haben diese vermeintlich heile Welt besungen, wobei die Schattenseiten höchstens angedeutet waren ("schee is gwen, owa hirt!").

Und doch sind schon in den 70er Jahren Texte veröffentlicht worden, die vor allem die Kälte und die Trostlosigkeit des Landlebens thematisierten. Allen voran hatte Anna Wimschneiders Autobiographie "Herbstmilch" mit der verlogenen Romantik aufgeräumt: "So wars halt, wenn die Mutter am neunten Kind im Kindbett starb, weil sie aus Angst vor der kirchlich angedrohten Höllenstrafe nicht zu verhüten gewagt hatte."

Auch Resi Weiß fügte sich gottergeben ihrem Los. Wie viele Frauen auf dem Land wagte sie es nicht, aus der Ehe zu flüchten, obwohl sie ausgebeutet wurde und nichts als ein Sexobjekt war. "Dass sich unsere Mutter nicht scheiden ließ, war das Ergebnis ihrer Erziehung und ihres kindlichen Glaubens", sagt Angela Schmidt. Die Ehe war im Himmel geschlossen worden und durfte nicht geschieden werden. "Der liebe Gott will das nicht", das war das Credo der Resi Weiß.

"Dass sie sich nicht scheiden ließ, das ist ihr einziger Mangel", sagt der Deggendorfer Autor S. Michael Westerholz, der die Geschichte der Familie Weiß

auf Wunsch der Kinder umfassend recherchiert und in einem Buch dokumentiert hat. Wobei der Titel "Mame. Unsere Mutter die Löwin" (Verlag Ebner, Deggendorf, 14.90 Euro, ISBN 978-3-934726-52-6) auf den ersten Blick nicht erahnen lässt, welches Drama sich dahinter verbirgt.

Wutentbrannt schmiss er sein Kind an die Wand

"Ich habe an 47 Büchern mitgewirkt, aber kein einziges hat mich annähernd so belastet wie dieses", sagt Westerholz. Als er im Staatsarchiv Landshut die Ermittlungsakten studierte, tröstete ihn zumindest, dass seinerzeit auch die erfahrenen Polizeibeamten zugaben, wie sehr sie diese Geschichte der Gewalt und der Hoffnungslosigkeit mitgenommen hatte.

Fast täglich legte Weiß Zeugnis seines üblen Charakters ab. Einmal warf er kostbare Lebensmittel, die seine Frau auf Pump im Kramerladen besorgt hatte, in den Straßengraben, ein anderes Mal schmiss er ein Mittagessen, bevor jemand zugreifen konnte, vor aller Augen auf den Misthaufen.

Manchmal war Resi Weiß schon froh, wenn sie die Reste der Saukartoffeln verwerten durfte, die auf den Bauernhöfen für die Schweine gegart wurden. "Ein einziges Mal konnten wir selber eine Sau aufziehen", erinnert sich Christine Rubner, "wir alle freuten uns und fütterten das Tier fleißig." Doch am nächsten Morgen war die Sau nicht mehr da, deren Fleisch die Familie über Wasser gehalten hätte. Als Weiß zurückkehrte, gab er ungeniert zu, die Sau dem Wirt gegeben zu haben, um seine Saufschulden zu begleichen. Danach hatte Resi Weiß wieder alle Mühe, ihre Kinder vor dem Tobsüchtigen in Sicherheit zu bringen. Als die kleine Christine Keuchhusten hatte, schleuderte er das Kind wutentbrannt gegen eine Wand und schrie: "Die ist eh schon hi!" Der verzweifelten Mame, wie die Töchter ihre Mutter nennen, gelang es, das Mädchen im letzten Moment zu retten.

Seiner Frau trachtete Weiß immer wieder nach dem Leben. Einmal wollte er ihr mit der Axt den Schädel spalten, ein anderes Mal riss einer der Söhne den Vater in letzter Sekunde vom Hals der Mutter weg, die daraufhin flüchten konnte. Stets hatte die Mame diese Misshandlungen klaglos getragen, auch wenn sie fast immer mit blauen Flecken herumlief. Wenn Weiß aber die Kinder angegangen ist, dann hat sie immer Anzeige bei der Polizei erstattet. Und Weiß wanderte dann auch mehrmals ins Gefängnis.

Uneingeschränktes Glücksgefühl nach seinem Tod

"Nachdem wir von seinem Tod erfahren hatten, waren wir zum ersten Mal in unserem Leben uneingeschränkt glücklich", gibt Angela Schmidt offen zu. Nur die Polizisten reagierten seinerzeit entsetzt: "Bei den Angehörigen konnte kaum eine Trauer festgestellt werden", schrieb der Protokollführer in die Ermittlungsakte Ludwig Weiß. Da waren ihm freilich die Lebensumstände der Familie noch nicht bekannt.

"Dass wir dieses Martyrium überlebt haben, das haben wir nur unserer Mutter zu verdanken", sagt Angela Schmidt. Wenn sie von ihr spricht, schießen ihr sofort Tränen in die Augen. Vor ihrem Tod hatte sie ihren Töchtern das Versprechen abgenommen, sie sollten diese Geschichte unbedingt aufschreiben und bekannt machen - damit sich so etwas nie mehr wiederhole.

Weiß war nach eigenen Angaben Frontsoldat gewesen, vermutlich ist hier ein Grund für seine Verrohung zu suchen. Möglicherweise war er an den Massakern der SS auf Sizilien beteiligt. Seine Vergangenheit hatte ihn jedenfalls bei den Verwandten in seinem Geburtsort Böhmzwiesel zur Unperson gemacht, wie die Recherchen von Westerholz ergaben.

Fünf Monate nach der Heirat im Jahr 1946 kam der erste Sohn auf die Welt. Schon damals begann Weiß zu trinken. Die Krise verschärfte sich, als der erstgeborene Bub unter Qualen starb. Die Bäuerin, auf deren Hof die Familie Weiß damals in einem Nebengebäude hauste, hatte ihn mit Rattengift vergiftet. Aus purem Hass, wie sie selbst ohne Reue gestand. Von da an geriet Weiß völlig auf die schiefe Bahn.

Seine Gefängnisaufenthalte brachten der Familie keine Erleichterung. Die Kinder wurden Anfang der 60er Jahre in das St. Vinzenz-Kinderheim in Wallersdorf gesteckt, wo die nächsten Züchtigungen und Quälereien auf sie warteten - diesmal waren die Klosterschwestern die Urheber. Christine Rubner sagt, sie werde niemals mehr in ihrem Leben eine Nudelsuppe kochen. "Nudelsuppe konnte ich schon damals nicht riechen", sagt sie. Trotzdem musste sie alles auslöffeln, auch wenn sie sich in den Teller erbrach. Hatte das Mädchen am Mittag nicht fertiggegessen, stand der Teller am Abend wieder auf dem Tisch - samt dem Erbrochenen. Mit solchen Methoden wurden die Weiß-Kinder im Heim erzogen.

Wie kann man nach einer Kindheit, die von soviel Gewalt geprägt war, in ein normales Leben finden? Das Wundersame an der Geschichte der Familie Weiß ist, dass alle Kinder aufrichtige Erwachsene geworden sind, die eigene Familien gegründet haben, in denen sie ihren Kindern alles schenkten, was ihnen selber vorenthalten wurde: Geborgenheit, Wärme, Vertrauen. "Keiner von uns ist auf die schiefe Bahn geraten." Darauf sind Angela Schmidt und Christine Rubner besonders stolz. Geschafft haben sie das nur dank der Liebe und der Fürsorge ihrer Mutter, dessen sind sich die Schwestern sicher.

Insofern ist das Buch, das sie geschrieben haben, auch nicht als Abrechnung mit dem Vater gedacht, sondern als Hommage an eine "Heldin", die nicht an ihrem Elend zerbrach, allein ihrer Kinder wegen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: