Deutsch-österreichische Kooperation:Über die Grenze in die Schule

Deutsche Grundschüler in Österreich

Die Kinder aus Unterjoch gehen gerne in die Schule in Österreich.

(Foto: Stefan Puchner)

Weil ihre Zwergschule schließen musste, fahren die Kinder aus Unterjoch nun jeden Morgen über die Grenze nach Tirol. Der Unterricht mit den österreichischen Schülern funktioniert gut. Nur mit einer Sache haben die Kinder aus dem Allgäu ein Problem.

Von Stefan Mayr, Unterjoch/Jungholz

"Haaaalllo", rufen Verena und Bettina freundlich lächelnd. Aus dem blauen VW-Bus hallt ein ebenso gut gelauntes Hallo zurück. Es ist 7.45 Uhr, die Mädchen steigen ein, die Schiebetür geht zu und die sechs Kinder aus dem Oberallgäuer Dorf Unterjoch fahren gemeinsam Richtung Österreich. Nein, sie machen keinen Ausflug.

Für die Grundschüler ist der Weg über die Bundesgrenze hinweg ins Tiroler Nachbardorf Jungholz neuerdings der alltägliche Schulweg. In der dortigen "Volksschule" werden die deutschen Buben und Mädchen zusammen mit fünf einheimischen Kindern unterrichtet. Die grenzübergreifende Zusammenarbeit ist europaweit womöglich einmalig, ganz sicher aber vorbildlich. Nur eine von zahlreichen Besonderheiten dieser Klasse: Österreichs Behörden verlangen für die Gastschüler nicht einmal eine Gebühr.

So erfreulich diese Geschichte auch ist, so traurig war ihr Auslöser. Im vergangenen Schuljahr machten die Eltern aus Unterjoch noch bayernweit Schlagzeilen, weil sie sich vehement gegen die Schließung ihrer Dorfschule wehrten. "Wenn die Schule stirbt, stirbt auch unser Dorf", hatten sie geklagt. In Tracht fuhren sie mit einem Bus nach München in den Landtag, um den Abgeordneten ihre Sorgen nahezubringen. Vergeblich. Die CSU-Mehrheit blieb hart und senkte den Daumen.

Die sogenannte Zwergschule, in der sechs Grundschüler in einer gemeinsamen Klasse für Erst- bis Viertklässler unterrichtet werden sollten, wurde zugesperrt. Nach dieser Entscheidung flossen im Landtag sogar Tränen. Die verzweifelten Eltern wussten nicht, wohin sie ihre Kinder fortan zur Schule schicken sollten. Die lange Schulbusfahrt über eine kurvenreiche Passstraße zur Sprengelschule nach Bad Hindelang wollten sie ihnen unbedingt ersparen, weil diese bereits um 6.55 Uhr beginnt, in den langen Wintermonaten über verschneite Straßen führt und nicht selten mit Übelkeit endet.

Steuerzahler zahlen

"Das wäre unzumutbar gewesen", sagt Paul Besler, Vater von zwei Mädchen und Sprecher der betroffenen Eltern. Als Hauptschüler musste der Zimmerer diese Strecke früher selbst jahrelang fahren. "Wir haben alle regelmäßig gespien und sind mit stinkendem Hemd in der Schule gesessen", berichtet er. "Und jetzt stellen Sie sich mal vor, wie es einer Erstklässlerin gehen würde."

Nachdem der jahrelange Kampf in München verloren war, tat sich plötzlich aus der anderen Richtung ein Happy-End auf: das Angebot aus Österreich. "Jungholz hatten wir am Anfang nie im Kopf", sagt Paul Besler. Als die Idee auf dem Tisch lag, setzten sich die Eltern zusammen. Schnell war klar: "Warum eigentlich nicht?" Ähnlich sieht das der Bürgermeister von Jungholz, Bernhard Eggel: "Wie soll ich jemandem noch die EU erklären, wenn das nicht klappen würde?", fragte er.

Allerdings musste er aufpassen, wie er berichtet: "Der Landrat von Sonthofen und ich waren uns einig, dass man so was am besten auf unterster Ebene entscheidet, sonst wird es kompliziert." Als hauptberuflicher Klärwerker bevorzugt Eggel die pragmatische Arbeitsweise, herausgekommen ist eine blitzsaubere Lösung: "Wir haben durch die neuen Schüler keine Zusatzkosten, also verlangen wir auch nix."

Und das, obwohl Lehrer und Schule von Österreicher Steuerzahlern bezahlt werden - und dort jetzt immerhin mehr Allgäuer als Tiroler Kinder unterrichtet werden? "Das passt schon", sagt der ÖVP-Mann, "unsere Kinder fahren nach der vierten Klasse ja auch nach Sonthofen und Immenstadt auf die Schule." Der Gemeinderat habe einstimmig zugestimmt.

Erst- bis Vierklässler werden gleichzeitig unterrichtet

Erst, wenn die Schule etwas investieren muss, werde er mit seinem deutschen Kollegen sprechen. "Und dann wird der sich beteiligen." Ausgemacht haben die Männer das per Handschlag. Ganz ohne Kultusministerium oder EU-Bürokratie.

Lehrer Gerhard Steffan hat zwar jetzt mehr als doppelt so viele Schüler, doch er sagte sofort zu. "Wir freuen uns, dass die Kinder da sind", sagt er. Die neue Situation tue allen Beteiligten gut, auch den Jungholzer Schülern: "Bei fünf Kindern kommt ja kein Klassengefühl auf. Alleine das Singen macht jetzt viel mehr Spaß." Berührungsängste gab es nicht: "Die kennen sich aus dem Sandkasten und vom Baden", sagt Mutter Manuela Besler. "Es ist das beste, was passieren konnte", sagt Paul Besler.

Die Schule ist nur fünf Kilometer weg, statt um viertel vor sieben, wie es bei einem Schulbesuch in Bad Hindelang der Fall gewesen wäre, müssen die Kinder erst eine Stunde später losfahren. Das Kindergeschrei vom Pausenhof ist zwar jetzt weg aus dem Dorf. Aber das Krippenspiel wird die neue Klasse in der Jungholzer und in der Unterjocher Kirche aufführen. "Alle Eltern sind zufrieden", beteuert Besler, "und die Kinder lieben den Lehrer." Die zehnjährige Verena erzählt mit leuchtenden Augen: "Der Lehrer ist sehr nett und ich habe schon neue Freunde gefunden."

"Das hätten wir uns ja früher nie getraut"

In ihrer neuen Klasse werden wie zuvor auch in Unterjoch Erst- bis Vierklässler gleichzeitig unterrichtet. Jedes jüngere Kind hat ein älteres als Rechen- oder Lesepaten. Man hilft sich gegenseitig, gelebte Völkerverständigung. Lehrer Steffan lobt die neuen Schüler: "Sie sind wissbegierig und wohlerzogen", sagt er. Also alles komplett harmonisch? Gibt es kein einziges Problem? "Na ja", sagt Steffan schmunzelnd, "die Kinder aus dem Allgäu haben halt Probleme mit dem Siezen."

Die meisten Unterjocher duzen ihr Gegenüber, auch Erwachsene, die sie vorher nie gesehen haben. Deshalb sagen auch die neuen Schüler zum Lehrer: Du. "Das hätten wir uns ja früher nie getraut", sagt Steffan. Der 56-Jährige wird wohl genügend Zeit haben, diese Benimmregel einzuüben. Denn das Projekt deutsch-österreichische Musterzwergschule ist langfristig angelegt.

Unterjöchler aus der CSU ausgetreten

In Bayern liegt die Untergrenze für eine Schule bei 13 Kindern. In Tirol wird dagegen erst zugesperrt, wenn weniger als drei Kinder da sind. Diese Diskrepanz kann Paul Besler nicht verstehen: "Die verlagern das Heimatministerium für Millionenkosten nach Nürnberg, um angeblich den ländlichen Raum zu stärken", wettert er, "aber unsere funktionierende ländliche Struktur haben sie zerstört, weil 70 000 Euro für eine Lehrerin zu viel sein sollen." Nach dem Landtagsbeschluss seien sechs, sieben Unterjocher aus der CSU ausgetreten. Auch Besler. "Ich fühle mich verarscht", sagt er. "Über drei Wahlen hinweg haben sie uns hingehalten, und als wir sie gewählt hatten, haben sie zugesperrt."

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