Demografischer Wandel:Lasst die Puppen tanzen

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In Mehrgenerationenhäusern können sich alte und junge Menschen treffen, austauschen und helfen. Wie einst in der Großfamilie. Für die Ingolstädter Marionettenspieler ist der Altersunterschied von 50 Jahren ein "Glücksfall", Diskussionen gibt es nur über richtige Worte

Von Johann Osel

Wer zum Seniorenschwimmen will, ist mehr als ein Jahrzehnt zu spät dran. Dafür kann er bunte Puppen sehen, Krokodile, fliegende Fische - und Hobby-Künstler, die hier kleine Fantasiewelten erschaffen. Mitten in ein früheres Schwimmbecken haben sie die Bühne der "Schanzer Puppenspieler" gebaut. Rundherum prangen noch blaue Fliesen, hinter die Bühne führt der Weg über eine ehemalige Beckentreppe. Der einstige Senioren-Treff im Neuburger Kasten in Ingolstadt ist heute ein Mehrgenerationenhaus. Nicole Maleta, 46, Paul Gruzinger, 80, und Christine Kaulberg, 59, kennen sich bestens aus da hinter dem Vorhang, vorn dran sind die Requisiten für das nächste Stück: ein Holzboot, das über eine Feder zum Schwanken gebracht wird, ein Rettungsring. In ein paar Monaten wollen sie eine Flüchtlingsgeschichte präsentieren. "Vier bis 104 ist die Zielgruppe, wir haben die volle Altersspanne im Publikum, Kinder mit Eltern und Großeltern", sagt Christine Kaulberg. Fast so bunt ist auch die Spieltruppe - die Jüngsten, an diesem Tag nicht dabei, sind Anfang 30, Paul Gruzinger ist fünf Jahrzehnte älter. Mehrgenerationentheater im Mehrgenerationenhaus.

Die Bedingungen sind "ein Glücksfall, wie ein Lottogewinn", sagt der Gruppen-Älteste. "Die Bühne ist ein Glücksfall für uns", kontert Peter Ferstl, Chef des Hauses. Mehrgenerationenhäuser sollen lokale Anlaufstellen sein, in denen sich Jung und Alt treffen und gemeinsam aktiv sind. "Da sind die Puppenspieler ein Vorzeigeprojekt", sagt Ferstl. Derart vorzeigewürdig, dass die Bühne sogar in einem Info-Film der Bundesregierung zu Mehrgenerationenhäusern vorkommt. Seit gut zehn Jahren hat Ingolstadt diese Einrichtung, und daran hat der Bund maßgeblichen Anteil. Damals startete man ein Förderprogramm für solche Häuser, 2017 nun fortgeführt in der dritten Runde bis zum Jahr 2020.

Warum das nötig ist? Ein paar Zahlen aus Bayern: In 41 Prozent aller Haushalte leben heute Singles, vier von zehn allein lebenden Menschen sind älter als 60. In gut jeder fünften Familie weist die Statistik Alleinerziehende aus; Haushalte mit drei Generationen sind quasi perdu. Die Gesellschaft altert, traditionelle Bindungen verfallen. Ein Rezept dagegen sind eben Mehrgenerationenhäuser, als Dach für Ehrenamt, Plattform für Hilfe und soziale Beratung, vor allem aber für die Begegnung von Jüngeren und Älteren, für Kultur, Freizeit, für ein Miteinander.

Man muss gar nicht die Rechenschaftsberichte aus Ingolstadt wälzen, um zu sehen, dass das Konzept aufgeht - hier im Bürgerhaus, das mit seinen zwei Standorten auch Mehrgenerationenhaus ist. Kein bräsiger Seniorentreff wie früher, da waren die Besuchszahlen rückläufig. Das Bundesprogramm habe einen "Paradigmenwechsel" eingeleitet, erinnert sich Ferstl. Heute sieht man Kinderwagen, aufgereiht wie in Parkbuchten, daneben stehen Rollatoren. Im Reparatur-Café unterm Dach werden etwa alte Radios flott gemacht, Jugendliche unterrichten Senioren im Umgang mit dem Handy, Ältere helfen Schülern als Lesepaten. Es treffen sich der Vegetarierbund und die Orchideengesellschaft, Schwule, Strick-Fans und Selbsthilfegruppen. Freiwillige stemmen das meist, Ferstl und sein Team sehen sich als Plattform, bieten so viel Hilfe wie nötig. Jährlich sind es Tausende Veranstaltungen. Natürlich gibt es Angebote, die auf Ältere zugeschnitten sind, etwa den Seniorensport. Ferstl sagt: "Aber das nennen wir nicht so, keiner will heute Senior sein."

91 geförderte Häuser für alle Generationen gibt es in Bayerns Städten und Gemeinden; daneben kleinere außerhalb der Initiative, meist separat laufen zudem Wohnprojekte für Jung und Alt. Neulich bei einer Ausstellungseröffnung zum Thema sagte Sozialstaatssekretär Johannes Hintersberger (CSU): "Die Mehrgenerationenhäuser sind längst zu einem wichtigen Baustein der sozialen Infrastruktur in Bayern geworden." Sie leisteten "wertvolle Arbeit bei der Gestaltung des demografischen Wandels". Bayern ist wieder mal Platz eins, der Freistaat habe die meisten geförderten Häuser unter den 16 Ländern.

"Jeder lobt die Mehrgenerationenhäuser, sie sind ein Aushängeschild für Bayern", sagt Hans Jürgen Fahn, generationenpolitischer Sprecher der Freien Wähler im Landtag. "Aber der Freistaat trägt kaum dazu bei. Es kann nicht sein, dass der Löwenanteil von Kommunen und Bund getragen wird." Tatsächlich gibt es für die Häuser 40 000 Euro Jahreszuschuss vom Bund; davon muss die Kommune 10 000 Euro tragen. Der Freistaat steuert 5000 Euro bei, falls Kommunen klamm oder "besonders vom demografischen Wandel betroffen" sind. Zusätzliche Landesmittel können nur für spezielle Projekte fließen. Für Integration zum Beispiel, wenn ein Haus Sprach-Cafés und dergleichen anbietet. Dass Geld vom Bund nur befristet bereit steht, rügt Fahn auch. "Wir brauchen dauerhaft Mittel, um die Existenz langfristig zu sichern." Für zwei Häuser pro Landkreis oder kreisfreier Stadt sieht er Bedarf. Laut einer Liste des Ministeriums gibt es viele weiße Flecken. Keine geförderten Häuser haben unter anderem Deggendorf, Eichstätt, Schweinfurt, Cham. Auch auf dem Land, sagt Fahn, existierten Großfamilien heute kaum noch.

Wie eine kleine Familie wirken die Puppenfreunde in Ingolstadt. Schon vor der Gründung des Mehrgenerationenhauses hatte Gruzinger die Idee mit der Bühne, es gab eine erste Gruppe, ständig auf der Suche nach Räumen; richtig professionell wurde sie unter festem Dach. Inzwischen gab es acht Stücke und meist volles Haus, wenn der Vorhang aufgeht und die Glocke ertönt. Die Gruppe macht alles, schreibt Texte, Lieder, bastelt die Puppen. "Fünf Schichten Holz schneiden, kleben, dübeln, bemalen", erzählt Gruzinger, dem man einen Handwerksberuf zutraut; er war früher Bewährungshelfer. Christine Kaulberg zeigt Leila vor, eine Puppe mit roten Haaren und buntem Gewand. Mehrmals haben sie das Kostüm umgeschneidert, bis es perfekt war. Sie sind stolz auf ihr kleines Reich, und das sicher zu Recht. Sieben Aktive spielen derzeit, es gibt Fluktuation. Und wie läuft das mit den Generationen? Jeder nach seinen Möglichkeiten: Die Jüngeren im Job können nicht immer proben, "wenn zum Beispiel Samstagsschicht ist bei Audi", sie nehmen kleinere Rollen. Gebeugtes Stehen und Armstrecken beim Spielen gehen an die Substanz, da braucht manch Älterer Pausen. "Die Muckibude sparen wir uns", sagt Nicole Maleta. Ansonsten bringt jeder seine Kindheitserfahrungen ein, seinen Horizont; Debatten gibt es allenfalls um antiquierte Worte, die Kinder heute nicht verstehen könnten. Ohne das Mehrgenerationenhaus samt Bühne gäbe es die Gruppe in dieser Form wohl nicht mehr.

Die 40 000 Euro vom Bund kann Ferstl gut investieren. Einen Freistaat-Zuschuss erhält Ingolstadt nicht: zu reich, zu jung. Auch wenn seit der Abgaskrise bei Audi beim Kämmerer das Geld nicht mehr so locker sitzt - die Stadt ist Träger des Bürgerhauses und Ferstl ist zufrieden. Dazu bemüht er sich um Spenden, Einnahmen, Projektmittel, klaubt zusammen, was sich auftut. Andere Häuser müssen das noch mehr tun. Besonders dann, wenn der Träger nicht die Kommune ist. Es gab auch schon Schließungen in den vergangenen Jahren - aus Geldnot.

Vor ein paar Jahren hat sich mal eine ganz große Runde zur Tagung in Nürnberg getroffen, Städtetag, Gemeindetag, Landkreistag, Ehrenamtsexperten - und natürlich Leiter von Mehrgenerationenhäusern. Da zeigte sich die Vielfalt, die in den Häusern steckt; aber auch, welche Sorge die Fachleute umtreibt: dass bei der Finanzierung nicht im Rhythmus von drei Jahren gedacht werden solle, eher von 30 Jahren. Dabei dürften die Kommunen nicht immer "neue Finanzierungspäckchen zur Ko-Finanzierung vor die Tür gelegt zu bekommen", hieß es. Ein Referent sagte: Wenn es Neueröffnungen gebe, neue Schilder aufgehängt würden, kämen sogar Ministerinnen. Keiner komme aber vorbei, wenn ein Schild wieder abgehängt werden müsse.

© SZ vom 11.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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