Chiemgau:Manche nennen es rumblödeln, andere Lindy-Hop

Altenmarkt an der Alz: TANZEN/ TÄNZE - SWING

Anna Werr und Heinrich Hess sind früher nicht über ein paar Runden Discofox hinausgekommen. Inzwischen haben die beiden eine eigene Tanzschule. Getanzt wird aber überall, manchmal auch in einem Laden.

(Foto: Johannes Simon)

Der Tanzstil ist in den Zwanzigerjahren in den Straßen von Harlem entstanden. Nun erreicht er den Chiemgau.

Von Katharina Schmid, Altenmarkt

Sie trägt ein rosa Kleid, roten Lippenstift, beige Tanzschuhe. Er hat eine Krawatte umgelegt, weißes Hemd zur dunkelblauen Hose, ebenfalls Tanzschuhe an den Füßen. Ihre Hand liegt auf seiner Schulter, die seine in ihrer Taille. Benny Goodmans Klarinette setzt ein und Anna Werr und Heinrich Hess legen los: Knie wippen, Beine schwingen, Hüften wackeln.

Werr und Hess tanzen Lindy Hop. Einen Tanz, der sich Ende der Zwanzigerjahre in den USA entwickelt hat und seit Ende der Neunzigerjahre sein Revival auf der ganzen Welt erlebt. Nun ist diese Spielart des Swingtanzes im Chiemgau angekommen, wo sich derzeit eine Lindy-Hop-Szene formiert, klein zwar, aber lebendig.

An diesem Abend trifft sie sich in einem Modeatelier in Altenmarkt zur Tanzparty mit Schnupperkurs. Etwa 30 Leute sind gekommen, für Chiemgauer Verhältnisse viele. Eingeladen haben Anna Werr und Heinrich Hess, beide 33, sie Inhaberin einer Werbeagentur, er gelernter Fertigungsplaner. Das Paar gründete Anfang 2016 die erste und einzige Swing-Tanzschule in Traunstein: Elephant Swing.

Weil sie "einfach Lust auf Tanzen" hatten und der Weg zur nächsten Swing-Tanzschule nach München oder Salzburg zu weit war, holten sie den Lindy-Hop kurzerhand in ihre Heimatstadt. Von Trainerkollegen gab es für diese Entscheidung nur ungläubige Blicke kombiniert mit der Frage, seid ihr verrückt, in einer Kleinstadt, wer soll da Lindy tanzen?

In größeren Städten, meist Unistädten wie München oder Augsburg, Salzburg oder Linz, sind Swing-Tanzschulen oder zumindest Kurse an den Universitäten keine Seltenheit mehr, besonders seit die alte Musik von Benny Goodman, Duke Ellington, Artie Shaw und Konsorten vor einigen Jahren durch das neueste Genre, den Electroswing, neue Fans gewonnen hat. In einer Stadt wie Traunstein mit knapp 20 000 Einwohnern ist eine Tanzschule für Lindy Hop trotzdem noch immer, nun ja, eher die Ausnahme.

Herzenssache und Herausforderung

Werr und Hess, die es selbst nie zu mehr als zum obligatorischen Schultanzkurs und ein paar Discofox-Runden auf Hochzeiten gebracht hatten, fanden vor knapp fünf Jahren zum Lindy Hop. Aus unregelmäßigen Partys wurden sonntägliche Tanztreffs, aus diesen Workshops an der Volkshochschule in Traunstein und daraus die eigene Tanzschule, eingemietet im katholischen Kinderheim, zugleich "Herzenssache" und "challenge". Herausforderung deshalb, weil erst mal Leute gefunden werden mussten, die den eher unbekannten Lindy Hop kennen lernen wollten.

Einer von diesen Leuten ist Wolfgang Erl. "Lindy ist so lässig wie die Musik klingt", sagt er. Ihm gehört der Laden in Altenmarkt, in dem die Verkaufstische kurzerhand beiseite geschoben wurden, um Platz zu machen für die Tänzer. Weil Erl und seine Frau wegen ihrer kleinen Kinder nicht zu den Kursen nach Traunstein kommen können, haben sie den Lindy Hop einfach zu sich nach Hause eingeladen - mit regelmäßigen Partys in ihrem Geschäft.

Ein Tanz gegen schlechte Laune und Stress

"Lässigkeit und Anarchismus" vereint der Tanz für Erl, der an diesem Abend mal als Barista hinter der Kaffeebar steht, mal als Tänzer auf der Tanzfläche schwitzt. Anarchismus deshalb, weil im Lindy Hop nicht automatisch der Mann führt, sondern beide Tanzpartner Impulse geben und die Musik zusammen interpretieren. "Das ist wie ein Gespräch", sagt Anna Werr. Getanzte Unterhaltung. In der es auch mal zu dem ein oder anderen Missverständnis kommen kann; im Lindy Hop Anlass zum Lachen, denn Fehler gibt es nicht, nur Variationen, sagen die Tanzlehrer. Und Erl weiß: "Wenn du dir richtig blöd vorkommst, dann ist es richtig."

Rumkasperln, rumblödeln, sich zum Deppen machen. Sie nennen es alle anders, aber für die Tänzer bedeutet es immer das Gleiche: Spaß haben, übertreiben, ausprobieren, Lindy tanzen halt.

Altenmarkt an der Alz: TANZEN/ TÄNZE - SWING

Getanzte Unterhaltung, bei der es auch mal zu Misstönen kommen kann: der Lindy-Hop.

(Foto: Johannes Simon)

Anita und Chris Birner, sie Zahntechnikerin, er Grafikdesigner, sie im orangenen Kleid, er in Jeans und grauem Shirt, können nicht mehr ohne. Der 47-Jährige nennt den Tanz "frech und frei" und genau das ist es, was ihm so gefällt. Frech und frei ist der Lindy Hop deshalb, weil er von der Straße kommt. Ende der Zwanzigerjahre vor allem von Afroamerikanern im New Yorker Stadtteil Harlem getanzt, hat er sich weiterentwickelt ohne starre Regeln festzusetzen.

Wer die Grundschritte kennt, darf drauflos interpretieren, frei nach Lust und Laune. Für die Birners der perfekte Tanz. Seit sie mit dem Lindy Hop begonnen haben, bestimmt der ihr Leben zumindest mit. Auf Reisen in Städte wie Berlin, Paris oder Wien machen sie als erstes die lokale Lindy-Tanz-Communitiy ausfindig, zuhause üben sie schon mal im Wohnzimmer schwierige Schrittkombinationen oder geben das Gelernte an Freunde weiter.

Weil der Lindy Hop ein sogenannter "social dance" ist, also Partner nach ein paar Tänzen munter gewechselt werden, kommen manche einfach ohne festen Partner zur Tanzparty. Zum Beispiel Christian Höhne, der etwas verspätet in Jeans und schweren Arbeitsschuhen den Laden in Altenmarkt betritt. Er bezeichnet sich selbst als "Lindy-Anfänger", die Begeisterung für den Tanz hat ihn trotzdem schon gepackt.

Echte Menschen, echter Sport, echter Spaß

Deshalb will der 36-Jährige, Baumpfleger von Beruf, Vollbart, Tätowierung auf dem rechten Arm, den Chiemgauer Lindy Hoppern jetzt eine mobile Tanzfläche bauen, damit sie im Sommer auch draußen tanzen können. Die soll dann neben dem Gasthaus seiner Freundin stehen, "sodass die Leute samstags zum Brunch Lindy tanzen können - und das mit Blick auf den Hochfelln". Das wird gut werden, ist nicht nur Höhne überzeugt, den hier alle nur Chris nennen und der seine Arbeitsschuhe mittlerweile gegen Tanzschuhe eingetauscht hat.

Tanzbegeisterung an allen Ecken und Enden. Hess sieht in den Abenden auch einen Gegentrend zum digitalen Zeitalter von heute: "Du triffst die Leute wahrhaftig, es ist kein bloßes Dasitzen und Reden, man hat unverfänglichen Körperkontakt, es ist Sport, es macht Spaß." Ein ganzer Hormoncocktail wird durch Musik, Körperkontakt und Bewegung ausgeschüttet. Deshalb beobachtet Werr auch: "Egal wie schlechte Laune man hat, spätestens nach dem zweiten Lied ist sie weg." Der Tanz und die Musik würden einfach glücklich machen, sagt sie, und wer an diesem Abend durch die Schaufenster des Modeateliers in Altenmarkt schaut, der kann dieses Glück aus nächster Nähe beobachten.

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