Brauchtum:Der Weihnachtsmann bekommt Konkurrenz

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Bräuche verändern sich - je nach Bedürfnis einer Gesellschaft. (Foto: dpa)

Bräuche stammen aus der mystischen Vorzeit - von wegen. Sie werden erfunden, wenn sie gebraucht werden.

Von Hans Kratzer, München

Kaum ist auf dem Oktoberfest das letzte Hendl abgefieselt, bewegt sich der Kalender schon pfeilgerade in Richtung Allerheiligen und Advent. Auf den Bierdunst der Wiesn folgen die Herbstnebel, die bunten Lichter ermatten in jener regennassen Finsternis, die scheinbar unverrückbar von archaisch anmutenden Bräuchen und Ritualen begleitet wird. Doch dann hat sich vor gut zwei Jahrzehnten das amerikanische Kommerz- und Gruselfest Halloween in das bayerische Herbstbrauchtum hineingezwängt. Laut, schrill und schräg läutet es den Totenmonat November ein, während die stillen christlichen Feste Allerheiligen und Allerseelen spürbar an Kraft und Zuspruch verlieren.

"Bräuche fallen nicht vom Himmel, sie kommen auch nicht aus der Volksseele. Sie werden erfunden, wenn man sie braucht", sagt die Ethnologin Helga Maria Wolf, die sich mit verschwindendem Brauchtum und untergehenden Ritualen beschäftigt und gerade ein Buch über dieses Phänomen geschrieben hat. Wolf kommt zu dem Ergebnis, dass sich Bräuche dynamisch weiterentwickeln, verschwinden und zum Teil wieder revitalisiert werden. Ihr Buch schärft das Bewusstsein dafür, dass althergebrachte Dinge keinesfalls schon immer da waren. "Kein Brauch hat sich von mystischer Vorzeit bis in die Gegenwart erhalten", sagt Wolf ganz selbstverständlich.

Brauchtum
:Verschwundene Traditionen

Je nach Bedürfnis einer Gesellschaft verändern sich ihr Bräuche. Oder die Grundlage geht einfach verloren.

Vor einigen Jahrzehnten hat der Münchner Volkskundler Hans Moser die wissenschaftliche Welt mit solchen Sätzen noch stark irritiert. Er räumte nämlich mit jenen antiquierten Vorstellungen auf, wonach die Bräuche allesamt in grauer Vorzeit entstanden und von einem allgemein waltenden Volksgeist in ewiger Kontinuität über uns gekommen seien. Anders ausgedrückt: Geschichte bedeutet Veränderung, Prozess, Wandel, und das gilt für Bräuche ganz genauso. Das zeigt beispielhaft das Fensterln, ein alter Liebesbrauch, der heute als Kommerzgaudi fortgeführt wird, was aber den Genderisten nicht gefällt, wie kürzlich bei einem Fensterln-Wettbewerb an der Uni Passau zu beobachten war.

Wie Bräuche verschwinden

Meistens gehen Rituale verloren, wenn die Grundlage wegfällt. Das Gautschen, die Initiation der Buchdrucker und Schriftsetzer, verlor im digitalen Zeitalter sofort seine Bedeutung. Andere verschwundene Bräuche hatten agrarischen Charakter und waren an hierarchische Strukturen gebunden. Sie waren fixer Bestandteil der bäuerlichen Gesellschaft und erfüllten wichtige soziale Funktionen in einer Zeit, in der sogar noch die Hüterbuben mithelfen mussten, die Existenz der Familie zu sichern.

Wolf nennt in ihrem Lexikon unter anderem die Heischebräuche. Sie entsprachen einem überlieferten Recht, für gewisse Leistungen Geld oder Lebensmittel zu erbetteln. Vereinzelt wird auf dem Land noch der Klopferbrauch gepflegt. Die Donnerstage im Advent gelten als die Klöpfelsnächte. Einst gingen Kinder und Dienstboten in diesen Nächten verkleidet zum Klöpfeln. Sie klopften an den Türen der Bauernhöfe an, sangen ein Lied und baten um eine milde Gabe. Das Klöpfeln war eine wichtige Versorgungsquelle für Arme. Der Name Kletzenklopfer rührt daher, dass unter den Gaben oft Kletzenbrote waren (Kletzen sind gedörrte Birnen). Heute ist an seine Stelle der aggressive Bettelbrauch an Halloween getreten (Süßes oder Saures!).

Die meisten Bräuche sind also relativ jung, auch der Coca-Cola-Weihnachtsmann, der im Begriffe ist, den Nikolaus zu verdrängen. Und nun bekommt er sogar selber Konkurrenz - vom Weihnachtshasen, der neuesten Erfindung der Konsumindustrie. Das zeigt, dass sich Bräuche veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen sofort anpassen. Die einzige Beständigkeit ist ihre Wandlungsfähigkeit, aber nur deshalb können sie überhaupt überleben.

Wie sich verschiedene Kulturkreise vermischen

Die Globalisierung hat diesen dynamischen Prozess extrem beschleunigt. Deshalb etablieren sich hierzulande zunehmend Bräuche aus anderen Kulturkreisen, auch wenn es manchmal nur so scheint. "Eine Wurzel des amerikanischen Festes Halloween führt eindeutig zum europäischen Armen-Seelen-Glauben des Hochmittelalters", schreibt Helga Maria Wolf.

Auf dem Flinserlfasching in Bad Aussee dominieren wiederum venezianische Masken, sie wurden von Kaufleuten importiert. Dass sich im österreichisch-süddeutschen Alpenraum vieles ähnelt, etwa der Brauch, Totenköpfe zu bemalen, liegt daran, dass der Kosmos der katholischen Kirche den Festkalender prägte. Dazu kommen Konstanten wie Lichterbräuche im Winter oder magische Handlungen, wenn es um den Erhalt des Besitzes (Blitzschutz durch Antlasseier) oder Bewahren und Steigern des Ernteertrages ging (Einstecken des Palmbaums, Flurprozession). Unverkennbar weist gerade das weite Feld des Aberglaubens fließende Grenzen zum kirchlich vermittelten Glauben auf.

Häufig verbindet man mit Brauchtum Vorstellungen einer heilen Welt. Doch das Lexikon listet genügend Bräuche auf, die nicht nur schön waren. Die Habergeiß zum Beispiel war ein beliebter, aber furchtbarer Kinderschreck und als solcher ein Abbild der rauen und oft rücksichtslosen Welt unserer Vorfahren. Gleichzeitig sind moderne Bräuche meistens Abbilder der heutigen Orientierungslosigkeit. Etwa, wenn im Bayerischen Wald aus Eventgründen Almabtriebe inszeniert werden, die es dort nie gegeben hat, noch irritierender sind die inkludierten Bullriding-Meisterschaften.

Helga Maria Wolf u. Sepp Forcher, Verschwundene Bräuche, Das Buch der untergegangenen Rituale, Brandstätter Verlag, 2015, 34,90 Euro

© SZ vom 09.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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