Oberallgäu:Übungssache Terroranschlag

Oberallgäu: Das Rote Kreuz stellt im Allgäu verschiedene Szenarien nach.

Das Rote Kreuz stellt im Allgäu verschiedene Szenarien nach.

(Foto: Dietrich Mittler)

Das Rote Kreuz probt mit 800 Teilnehmern den Ernstfall. Dabei verschwimmen die Grenzen zur Wirklichkeit. Verantwortliche fordern von der Politik mehr Unterstützung.

Von Dietrich Mittler, Bodelsberg

Dieses Allgäuer Straßenfest hatten sich alle so ganz anders vorgestellt. Von wegen laue Nacht im Mai, statt dessen beißende Kälte, die in die Knochen geht. Doch davon wollen sich einige der jungen Leute nicht die Stimmung verderben lassen. Übermütig stürmen sie auf eine Wiese am Straßenrand zu, wälzen sich johlend im regennassen Gras. Keiner von ihnen achtet auf den schwarz gekleideten drahtigen Mann. Doch der hat plötzlich eine Waffe in der Hand. Er schießt, das Mündungsfeuer der Pistole sticht wie eine spitze Klinge ins Dunkel der Nacht. Menschen liegen am Boden. Sie schreien, und diese Schreie lassen vergessen, dass es sich dabei um eine Übung handelt.

Das Bayerische Rote Kreuz (BRK) bereitet sich mit rund 800 ehrenamtlichen Teilnehmern aus ganz Bayern auf "besondere Einsatzlagen" vor. Im Klartext: Das Bergen und Versorgen von Opfern nach Terroranschlägen und Amokläufen. Auf dem Bundeswehr-Standortübungsplatz Bodelsberg im Oberallgäu haben die Rotkreuzler Aufnahme gefunden, um vier solcher Horror-Szenarien durchzuspielen. "Das wird mächtig, sehr mächtig", hatte Jochen Pfaffinger Stunden vor der ersten Übung prophezeit. Paffinger, der die an diesem Abend 73 der insgesamt 150 Opfer-Darsteller auf ihren Mimen-Einsatz vorbereitet, gehört zu den wenigen, die wissen, was auf die BRK-Rettungskräfte zukommen wird. Auch BRK-Landesgeschäftsführer Leonhard Stärk ist sich sicher: "Da wird es richtig krachen."

Beim Nachstellen des Terrorangriffs auf den Pariser Konzertsaal Bataclan mit damals 89 Toten und mehr als 300 Verletzten sollen nicht nur Schüsse fallen, sondern auch Sprengkörper gezündet werden. Auf die etwa 400, aus allen Landesteilen stammenden Rettungskräfte kommen harte Belastungsproben zu - fachlich und auch psychisch. Vor dem Bataclan-Einsatz steht das Szenario "Nizza" auf dem Programm: Am 14. Juli 2016 war ein Attentäter in der südfranzösischen Stadt auf der Promenade des Anglais mit einem Lastwagen durch die Menschenmenge gerast. Er richtete ein Blutbad an. Der Täter wurde von Polizisten erschossen.

"Wir haben das Ereignis in Nizza als grobe Richtschnur genommen und dann das Ganze mit einheimischen Festen in Verbindung gebracht", sagt Gerhard Häger vom BRK-Kreisverband Neu-Ulm. Der 51-Jährige ist einer der Szenario-Planer, die für jede Übung ein grobes Drehbuch vorgeben. "Das Mittelmeer ist zwar schön, und eine Strandpromenade haben wir leider auch nicht", sagt Häger. Der Tatort der Übung sei folglich "ein Allgäuer Feschtle", wie er mit schwäbischem Zungenschlag ausführt.

Das Szenario setzt ein, nachdem ein Laster bereits in die Menschenmenge gerast ist. Der Täter steigt aus, schießt wild um sich, nimmt drei Sanitäter als Geiseln. Schusswechsel mit der Polizei, der Terrorist bricht vor seinem Lkw tot zusammen. Ein Inferno bricht los. Die Mimen wissen, was sie zu tun haben: durchdringende Schmerzensschreie, Wimmern, Stöhnen, brüllende Appelle an die Rettungskräfte, endlich etwas zu tun.

"Genau so spielt sich das auch in der Realität ab"

Je mehr Zeit vergeht, um so wütender werden Rufe: "Hilfe, der verblutet! Wo seid ihr? Sanitäter!" Und das auch noch eine halbe Stunde nach dem Schusswechsel. Ein Polizeibeamter hatte die Rolle des Attentäters übernommen. Das Brüllen der Menge wird immer panischer. Schmerzenslaute, Blutlachen am Boden - zum Glück nur Theaterblut. Doch für die Rettungskräfte, die sich nun an die Lagesichtung machen, sind die Grenzen zwischen Übung und Wirklichkeit längst verwischt. Opfer-Darsteller rasen auf sie zu, reißen ihnen den Sanitäter-Rucksack vom Rücken, um die zu versorgen, die schwerer verletzt scheinen als sie selbst.

"Genau so spielt sich das auch in der Realität ab", sagt Michael Raut, ein charismatischer Typ mit einer alten Gebirgsjägermütze auf dem Kopf, an der ein rotes Kreuz prangt. Raut ist der Chef der BRK-Bereitschaften in Bayern, verantwortlich für das, was sich auf diesem "Großunfallsymposium 2018" abspielt. Bei der Übung dauert es gefühlt eine Ewigkeit, bis die von den wenigen anwesenden Sanitätern angeforderten Rettungskräfte eintreffen. "Wie mag es da einem Verletzten gehen?", sagt Raut, "aber auch für die hier eingesetzten Rettungskräfte ist das unerträglich."

Indes, die Mitglieder der Sanitätswache halten sich an die Vorgaben: Als Schüsse fallen, ziehen sie sich auf Anordnung der Polizei in einen als "sicher" definierten Bereich zurück. Unter anderem könnten sie ja "potenzielle Angriffsziele für einen zweiten Anschlag darstellen", wie in einer Handlungsempfehlung des bayerischen Innenministeriums für Rettungseinsätze bei besonderen Einsatzlagen/Terrorlagen - kurz "Rebel" - gewarnt wird. Innenminister Joachim Herrmann begrüßt solche Übungen. Durch sie werde nicht nur die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Rettungsdiensten vertieft. "Auch können erarbeitete Konzepte nur so auf ihre Praxistauglichkeit hin geprüft werden", sagt er.

"Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Terror auch bei uns in Bayern angekommen ist"

Als die Polizeibeamten in Bodelsberg das Gelände wieder freigeben, fahren die Sanitäter mit der Lagesichtung fort. Im Hintergrund läuft bereits die große Rettungs-Maschinerie an, überall Blaulicht auf den Zufahrtswegen zum Übungsort. Corinna Hasenwinkel, Bereichsleiterin im BRK-Bezirksverband Würzburg, kennt solche Eindrücke. Sie war im Einsatz, nachdem ein 17-jähriger afghanischer Flüchtling in einem Regionalzug mit einer Axt zunächst mehrere chinesische Touristen schwer verletzt hatte, und auf der Flucht eine zufällig vorbeikommende Frau. Auch er wurde schließlich von der Polizei erschossen. "Es war krass, weil wir bereits auf der Fahrt zum Einsatz darüber informiert wurden, dass geschossen wird", sagt Hasenwinkel. Sie selbst musste eine Frau betreuen, die im Zug direkt vor einem der Opfer gesessen hatte. Zurück von ihrem Einsatz, sah sie dann die blutverschmierten Rettungswagen, die gerade gereinigt wurden.

"Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Terror auch bei uns in Bayern angekommen ist", sagt BRK-Präsident Theo Zellner. Am 17. Mai 2016, so erinnert sich Zellner, hatte das BRK eine Arbeitsgruppe "Terrorismusrisiken" aus 24 Experten verschiedenster Fachgebiete einberufen. Am 25. Juli 2016 fand die zweite Sitzung statt, um über Einsatztaktik, Ausstattung, die Kommunikationswege, die künftige Ausbildung der Rettungskräfte und die psychosoziale Nachsorge für die eigenen Leute und die Opfer von Anschlägen zu beraten. "Zwischen beiden Tagungen", so sagt BRK-Landesgeschäftsführer Stärk, "mussten wir drei Großeinsätze mit besonderen Schadenslagen bewältigen - die Terroranschläge in Würzburg und Ansbach sowie den Amoklauf im Münchner Olympia Einkaufszentrum."

Zellner sieht die Staatsregierung in der Pflicht, den Bevölkerungsschutz noch besser als bislang schon auszustatten. In diese Kerbe schlägt auch Landesbereitschaftsleiter Michael Raut: "Wir bitten und fordern, uns und unseren Einsatzkräften endlich das Material zu stellen, das wir für den täglichen Einsatz und auch für Katastrophenfälle benötigen." Corinna Hasenwinkel quälen indessen ganz andere Sorgen: "Hoffentlich ist keine Übung geplant, die sich an den Anschlag in Würzburg anlehnt." Damit erneut konfrontiert zu werden, das wäre für sie und ihr Team einfach zu viel.

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