Bildungspolitik:Kritiker sehen Naturwissenschaften im neuen G 9 benachteiligt

Stundentafel Bayern G 9

Der aktuelle Entwurf muss noch vom Parlament beschlossen werden.

(Foto: SZ-Grafik, Kultusministerium)
  • Die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium ist beschlossen, die Stundentafel dafür ausgearbeitet.
  • Kritiker sehen die naturwissenschaftlichen Fächern benachteiligt.
  • Beispielsweise soll Chemie in der 11. Klasse gar nicht gelehrt werden, wenn es sich nicht um einen naturwissenschaftlichen Zweig handelt.

Von Anna Günther

Es klang alles so einfach vor den Sommerferien: Schulminister Ludwig Spaenle präsentierte die Stundentafel für das neue Gymnasium, gemeinsam mit Vertretern von Schülern, Eltern, Direktoren und Gymnasiallehrern. Ein Kompromiss, der die Wünsche der Schulfamilie und alle Vorgaben der Politik erfüllte. Nach Jahren der Kritik am achtjährigen Gymnasium betonte Spaenle die Harmonie - und schneller als der Zeitplan war man übrigens auch noch. Das scheint Geschichte zu sein, denn wann der Gesetzesentwurf zum neuen Gymnasium im Landtag diskutiert werden soll, weiß im Ministerium derzeit niemand. Nur, ohne Abstimmung im Parlament keine Änderung der Schulordnung und damit keine definitive Stundentafel. Und auch die Harmonie ist passé.

Schon vor der Präsentation des Entwurfs murrten alle leise, die befürchteten, im neuen G 9 zu kurz zu kommen. Nach der Präsentation sahen sich die Vertreter von Geografie, Wirtschaft/Recht, Biologie und Chemie bestätigt. Dabei sollte die gemeinsame Arbeitsgruppe von Lehrern, Eltern und Schülern doch verhindern, dass einzelne Fachgruppen oder Verbände um Stunden und damit auch um Stellen streiten.

Ob der Protest Grund für die Verzögerung ist, vermag Philologenchef Michael Schwägerl nicht zu sagen, "aber es finden Gespräche im Ministerium statt". Allerdings müsse man sich gut überlegen, dieses Fass wieder aufzumachen, dann kämen nämlich alle. Und die Arbeitsgruppe hätte einen Kompromiss gefunden, mit dem die meisten leben können. "Daran zu rütteln, ist eine politische Entscheidung", ergänzt Walter Baier, der Chef der Direktorenvereinigung.

Im Vergleich zum achtjährigen Gymnasium kommen im G 9 nach dem aktuellen Entwurf 19,5 Stunden dazu. Der Nachmittagsunterricht in Unter- und Mittelstufe fällt weg. Besonders profitieren die Kernfächer: Mathe sowie die erste und zweite Fremdsprache bekommen drei, Deutsch zwei zusätzliche Stunden. Geschichte und Sozialkunde gewinnen drei Stunden. Informatik wird zum Pflichtfach für alle. Ziel der Reform ist es, politische Bildung zu stärken und die Kinder besser auf die Digitalisierung vorzubereiten.

Mit Spaenles Mantra, dass in der neuen Stundentafel kein Fach "im Vergleich zum G 8 schlechter gestellt werde", geben sich die Fachverbände nicht zufrieden. Da alle anderen durch das zusätzliche Jahr oder darüber hinaus mehr Stunden bekommen, fühlen sich Vertreter von Chemie, Biologie, Geografie und Wirtschaft/Recht als Verlierer.

Also versuchen alle, den Beitrag des eigenen Faches zur politischen Bildung zu betonen, um doch noch mehr Stunden rauszuschlagen. Die Geografen stützen sich auf Studien und Petitionen, und beklagen, dass sie bei der Umstellung vom alten G 9 zum achtjährigen Gymnasium bereits zwei Stunden verloren. Dabei trage Geografie mit Themen wie Klimawandel, Migration und Umweltbildung direkt zur politischen Bildung bei, sagt Ingrid Hemmer, die an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Geografie-Didaktik lehrt. Das Fach bekomme aber keine Stunde mehr und habe zwei Lücken - "wie sollen da Kompetenzen aufgebaut werden?"

"Und denkt überhaupt jemand an die Kinder?"

Die bayerischen Chemieverbände setzen auf Dramatik, denn das Fach bekommt zwar eine Stunde dazu, soll aber in der elften Klasse in allen Zweigen außer dem naturwissenschaftlichen pausieren. Die politische Bildung leiste einen Beitrag zur Förderung des demokratischen Verständnisses, schreibt Günter von Au, der Vorstandsvorsitzende der Chemieverbände, in einem Brief an Spaenle. Aber "die reale Grundlage für Wohlstand, gut bezahlte Arbeitsplätze und sozialen Frieden als bestes Mittel gegen radikale Tendenzen in einer demokratischen Gesellschaft schaffen Wirtschaft und Industrie". Es wäre "brandgefährlich, eine innovationsgetriebene Industrienation ihrer naturwissenschaftlich-technischen Grundlagen zu berauben".

"Die Situation der Life-Science-Fächer ist katastrophal", sagt auch Markus Kiechle, der stellvertretende Verbandsvorsitzende der Chemielehrer Bayerischer Gymnasien. Wieder würden Sprachen und Gesellschaftswissenschaften bevorzugt, mit "weitreichenden Folgen" für Schüler und Studenten. Alle Schüler, die nicht im naturwissenschaftlichen Zweig lernen, also 40 Prozent der Gymnasiasten, seien durch die Pause in der 11. Klasse von der Wahl eines Chemie- oder Biologiekurses vor dem Abitur ausgeschlossen. Dann aber bekommen sie laut Kiechle Probleme in Studiengängen wie Medizin, Pharmazie oder Biochemie. Und selbst wenn Jugendliche in der 12. Klasse Chemie oder Bio wählten, könnten sie mit den Naturwissenschaftlern nicht mithalten. Im G 8 nahm die Zahl der Schüler deutlich ab, die in Chemie, Physik oder Biologie Abitur schrieben. Die neue Stundentafel verschärfe das Problem. Die Lösung ist für Kiechle einfach: weniger Zeit für Geschichte, Sozialkunde und die dritte Fremdsprache, macht zwei Stunden Chemie in der 11. Klasse.

Nur, dies widerspricht Spaenles Ziel, politische Bildung und Kernfächer, also auch die Sprachen zu stärken. Chemie zusätzlich zum bestehenden Plan hält Philologenchef Schwägerl für unwahrscheinlich, es sei denn die Staatsregierung gebe deutlich mehr als die geplanten 1000 Stellen frei. "Wieso eine Stunde Chemie in der 11. Klasse die Rettung der Chemie sein soll, erschließt sich mir nicht", sagt Direktorenchef Baier. Auch Schwägerl, selbst Naturwissenschaftler, teilt die von Chemikern befürchteten Folgen auf das Wahlverhalten derzeit nicht: "Natürlich ist Kontinuität besser, aber Biologie wurde im alten G 9 trotz einer Lücke in der 11. Klasse hervorragend in der Kursphase gewählt." Aber Chemie sei nicht Biologie, gibt er zu. Vergleichswerte habe er im Ministerium angefragt.

Würde das Ministerium alle Wünsche erfüllen, bekäme Bayern ein G 9 mit Nachmittagsunterricht - und der sollte auf Wunsch vieler Eltern abgeschafft werden. "Und denkt überhaupt jemand an die Kinder?", fragt Baier, jedes zusätzliche Fach müsse bestanden werden. Geht es nach ihm, müsste Spaenle die Debatten für beendet erklären, damit es nicht doch noch zu Verzögerungen kommt. Zumal sich alle Verbände noch zur Änderung der Gymnasialen Schulordnung und der Stundentafeln äußern können. Im Ministerium schließt man zusätzliche Stunden aus, höchstens eine Verschiebung zwischen den Jahrgangsstufen sei gegebenenfalls noch möglich.

Die schnellste Beruhigung versprechen sich Verbände und Ministerium von einer Oberstufenreform. Dass sie wieder zwei Leistungsniveaus und dadurch mehr Spielraum für besonders interessierte Schüler bringen wird, gilt als sicher.

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