Bildungspolitik:Bayerns Schüler flüchten in andere Bundesländer

Laurids Hogl

Warten auf den Schlepper-Bus. Laurids Hogl ist an jedem Schultag zwei Stunden unterwegs, damit er nicht auf eine bayerische Realschule gehen muss.

(Foto: Stefan Puchner)
  • Fast 8000 Schüler pendeln jeden Tag aus Bayern in eine Schule in einem Nachbar-Bundesland.
  • Dafür nehmen Kinder und Eltern teils lange Fahrzeiten auf sich.
  • Zahlreiche Oppositions-Politiker sehen Fehler im bayerischen System, doch die Regierung will davon nichts wissen.

Von Stefan Mayr, Lindau

Die Flucht beginnt jeden Tag um 6.43 Uhr am Berliner Platz in Lindau und sie ist bestens organisiert. Der knallgrüne Gelenkbus kommt extra aus dem 35 Kilometer entfernten Bodnegg gefahren. Tag für Tag karrt er bayerische Schüler außer Landes, damit sie jenseits der Grenze in Baden-Württemberg ihre Wunsch-Schule besuchen können. Zwei Handvoll Schüler steigen in Lindau ein, mit dabei ist Laurids Hogl.

Der 15-jährige Lindauer besucht seit der 5. Klasse die Realschule in Bodnegg. "Das ist super", sagt er, "wir lernen das Gleiche wie in Bayern, aber bei uns wird es viel lockerer beigebracht." So oder ähnlich denken viele Schüler und Eltern: Im Schuljahr 2014/15 pendelten mehr als 7600 Schüler aus dem Freistaat in ein anderes Bundesland. Für das aktuelle Schuljahr liegen noch keine flächendeckenden Zahlen vor, aber langfristig zeichnet sich ab: Es werden immer mehr.

Politiker aus den Grenzregionen schlagen Alarm - auch Vertreter der CSU. "36 Prozent der Mittelschüler aus Lindau gehen auf eine Schule in Baden-Württemberg", sagt Oberbürgermeister Gerhard Ecker (SPD), "das ist doch ein Witz." Er befürchtet, dass diese Schüler auch beim Berufseintritt im Nachbarland landen. "Jeder Unternehmer und Politiker müsste doch interessiert sein, das zu verhindern."

Ähnlich sieht das Thomas Gehring, der bildungspolitische Sprecher der Grünen: "Ich sorge mich um die Schulstandorte, die haben keine Zukunft." Der Lindauer CSU-Landrat Elmar Stegmann sagt: "Laut Landesverfassung ist der Freistaat für gleichwertige Lebensbedingungen verantwortlich, dem muss er jetzt Taten folgen lassen." Laufen dem Freistaat die Schüler davon? Und damit auch die Fachkräfte der Zukunft, die ohnehin schon so rar sind?

Das bayerische Kultusministerium gibt sich entspannt. "Einen vermeintlichen Abwanderungswillen" will Sprecher Ludwig Unger nicht erkennen. Schließlich gehe die Wanderung "ja in beide Richtungen". Er spricht von "pauschalen Zahlen" und, dass hier womöglich "Äpfel mit Birnen verglichen" werden. Wer vom Ministerium erfahren will, wie viele Schüler in andere Bundesländer pendeln, bekommt keine Zahlen. Das gilt sowohl für die Presse als auch für Landtagsabgeordnete. Die Erfassung sei unmöglich, heißt es.

Die meisten Bayern flüchten nach Baden-Württemberg

Die Süddeutsche Zeitung fragte deshalb in den Ministerien der Nachbarländer nach. Dort gab es innerhalb weniger Tage verlässliche Zahlen - schön aufgeschlüsselt nach einzelnen Schularten. Haupt-Sehnsuchtsort der flüchtigen Schüler ist Baden-Württemberg: Im Schuljahr 2014/15 waren es 5124, die Richtung Westen strebten. Die meisten, 2112, gingen aufs Gymnasium, 1990 besuchten die Realschule, 254 die Gemeinschaftsschule, auch andere Schularten werden von bayerischen Kindern besucht.

Nach Hessen fahren aktuell 1488 Schüler (unter ihnen 1018 Gymnasiasten, 217 Realschüler), nach Thüringen 415 (223 in Gymnasien, 192 in Regel- und Gemeinschaftsschulen). Sogar nach Sachsen pendeln bayerische Schüler: 24 Gymnasiasten und 19 Grund-, Mittel- oder Oberschüler. Hinzu kommen in all diesen Bundesländern noch Kinder und Jugendliche, die besondere Förderschulen besuchen.

Wenige Kinder wollen nach Bayern in die Schule

Bildungspolitik: Die Reinpendler und die Rauspendler - mehr Kinder und Jugendliche verlassen den Freistaat, um zur Schule zu gehen. (SZ-Grafik)

Die Reinpendler und die Rauspendler - mehr Kinder und Jugendliche verlassen den Freistaat, um zur Schule zu gehen. (SZ-Grafik)

In die Gegenrichtung sind viel weniger Kinder unterwegs: Der Freistaat meldet für das aktuelle Schuljahr lediglich 1161 Einpendler - 857 für Gymnasien und 304 für Realschulen. Immerhin diese Zahlen konnte das Kultusministerium erheben. Von einem ausgeglichen Hin und Her kann also keine Rede sein. Allein die Zahl der davonbrausenden Realschüler und Gymnasiasten nach Baden-Württemberg ist fast viermal so groß wie die der Einpendler aus allen vier Nachbarländern zusammen.

Die Gründe für diese einseitige Bewegung sind vielschichtig. Laut Kultusministerium gebe es in Grenzregionen "immer wieder eine gewisse Schülerwanderung". Diese ergebe sich etwa aus Verkehrs- oder Familienverhältnissen oder wegen der Betreuung der Kinder bei Verwandten nach der Schule. Bayerns Oppositionspolitiker sehen ganz andere Ursachen für den Einbahnstraßenverkehr. "Wir sind beim Übertritt nach der vierten Klasse das Land mit der strengsten Orientierung nach den Noten", sagt Martin Güll von der SPD, der Vorsitzende des Landtags-Bildungsausschusses.

In anderen Ländern haben die Eltern mehr Entscheidungsfreiheit. "Der Unterricht muss humaner und deutlich kindgerechter werden", sagt Lindaus OB Ecker. Der Landtagsabgeordnete Michael Piazolo (Freie Wähler) fordert ein "viel flexibleres Schulangebot". Die Schüler bräuchten "mehr Zeit und individuellere Angebote".

Nach einer Stunde Fahrt kommt Laurids Hogl aus Lindau am Schulzentrum Bodnegg an. Kurz vor dem Ziel ist der Bus mit seinen 168 Sitz- und Stehplätzen voll. Die letzten Schüler, die auf Baden-Württemberger Seite einsteigen, müssen stehen. Der Unterricht beginnt um 7.45 Uhr. Laurids Hogl verbringt täglich zwei Stunden im Bus, dennoch will er auf keinen Fall auf die bayerische Realschule. Warum? "In Baden-Württemberg müssen alle Kurzarbeiten angesagt werden", sagt er. Überhaupt sei das Schulsystem "einfach besser": "Der Stoff wird leichter rübergebracht und nicht so ernst."

Derartige Aussagen greift das bayerische Ministerium gerne auf. Der Wechsel in Nachbarländer könne auch "von vermeintlichen Erwartungen auf bessere Noten beeinflusst sein", schreibt es. Im Freistaat sei das Schulwesen eben "qualitätsorientiert". Bei Vergleichen seien die Schüler stets "sehr gut"; "bei der Ausbildung und im Studium sind sie sehr erfolgreich."

Mit dieser Argumentation kann der Grüne Gehring nichts anfangen: "Ich glaube nicht, dass Baden-Württemberg die schlechteren Ingenieure hat", sagt der Landtagsabgeordnete, "es ist komisch, zu denken, dass durch Druck mehr Leistung entsteht." Lindaus OB Ecker sieht das ähnlich: "Wir wissen doch, dass in Bayern nicht nur die Dummen hängen bleiben. Das hat auch mit menschlichen Gründen zu tun."

Opposition fordert grundlegende Verbesserungen

Schule in Niedersachsen

Die Schüler entscheiden sich sehr bewusst für ein anderes System als das bayerische.

(Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Man solle nicht nur auf die Lernleistung schauen, sondern auch die Kinder emotional mitnehmen. Ecker hat in einem Brandbrief ans Ministerium Maßnahmen gegen den Exodus gefordert. Die Antwort machte ihn ratlos: Zunächst betonte Staatssekretär Georg Eisenreich (CSU), der Transfer sei in beide Richtungen gleich stark. Dann regte er "Überlegungen zur Stärkung des Bildungsstandorts Stadt Lindau" an.

Genau das hat CSU-Landrat Stegmann versucht. Doch er scheiterte am Widerstand aus dem Ministerium. Die zwei Lindauer Gymnasien hatten sich mit einem gemeinsamen Konzept als "Modellregion G 9" beworben. Und die Fachoberschule wollte einen neuen Zweig Gestaltung einrichten. Beides hat das Ministerium abgelehnt. "Da fehlt mir das Verständnis", schimpft Stegmann, "wir wollten was anbieten, aber alles wurde torpediert."

Die Bildungspolitiker der Opposition haben grundlegende Verbesserungsvorschläge vorgelegt. "Es ist höchste Zeit für ein zweigliedriges System neben dem Gymnasium mit einer integrativen Form, die alle Abschlüsse und Anschlüsse bietet", sagt SPD-Bildungsexperte Martin Güll. SPD und Grüne haben mit Experten ein Konzept erarbeitet. Es wurde im Landtag von der CSU-Mehrheit abgelehnt. "Bayerns Schulpolitik fördert und entwickelt ein differenziertes und durchlässiges Schulwesen", stellt das Kultusministerium fest.

Weniger Druck in anderen Ländern

Manche Eltern sehen das ganz anders. "In Bodnegg kann mein Sohn nach der zehnten Klasse Realschule aufs normale Gymnasium gehen - und nicht wie in Bayern nur auf die FOS", sagt Susanne Hogl, Laurids' Mutter. Zudem sei ihre Entscheidung "auch eine atmosphärische Geschichte". In Baden-Württemberg werde "viel mehr mit den Eltern geredet und in Bayern gibt es nur Druck". Ihr Sohn kommt dreimal pro Woche erst um 17 Uhr nach Hause. Ganztagsschule. "Ich habe dann meistens keine Hausaufgaben mehr", sagt der Achtklässler, "im Bus kann ich schlafen oder mit den Freunden reden." In seiner Klasse sind sechs Mitschüler aus Bayern.

Jenseits der Direkt-Busverbindung hat der Exodus weitere kuriose Nebenwirkungen: Die Kosten für den Pendelverkehr tragen die bayerischen Landkreise. 2014/15 zahlte der Kreis Neu-Ulm für 591 Schüler und der Kreis Lindau für 570. Es gibt sogar Gemeinden, die die Fahrt nach Baden-Württemberg per freiwilligem Zuschuss unterstützen. Die Abwanderung wird also sogar vom bayerischen Steuerzahler subventioniert. Warum? Weil das den Bürgermeistern billiger kommt als ein Gastschulbeitrag, wenn das Schulkind in einen anderen Ort innerhalb Bayerns pendelt.

Martin Güll will sich damit nicht abfinden: "Die Schüler sollen ihre Zeit nicht im Bus verbringen. Wir brauchen gute wohnortnahe Bildung und müssen unsere Angebote weiterentwickeln." Das Kultusministerium zeigt sich dagegen hochzufrieden: "Wir haben das Schulenwesen deutlich durchlässiger gestaltet. Derzeit ist unter den Aspekten von Qualität und Gerechtigkeit kein Handlungsbedarf."

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