Bildung:"Humanistische Bildung gibt es auch ohne Latein und Griechisch"

Gynasium Ergolding

Altgriechisch hat das 2013 erbaute Ergoldinger Gymnasium nicht im Programm. Für Direktor Klaus Wegmann ist die Architektur humanistisch.

(Foto: Stephan Goerlich)
  • In Bayern gibt es vier rein humanistische Schulen, 46 Gymnasien bieten einen humanistischen Zweig an.
  • Im vergangenen Schuljahr haben 3100 Mädchen und Jungen Altgriechisch gelernt, Latein belegten 132 200 Schüler.
  • Viele Schuldirektoren sind davon überzeugt, dass das humanistische Ideal aktueller ist denn je - Eltern sehen das mitunter anders.

Von Anna Günther und Hans Kratzer

Ein Klassenzimmer in Regensburg, im Unterricht läuft ein Video. Zu sehen ist Kellyanne Conway, die Beraterin des US-Präsidenten Donald Trump. Sie diskutiert mit dem NBC-Journalisten Chuck Todd über die Zuschauerzahl bei Trumps Vereidigung in Washington. Todd spricht von Lügen, Conway von alternativen Fakten. Conway, Trump, NBC - das klingt nach Sozialkunde, haben wir uns verlaufen? Auf dem Plan stand Griechisch. "Alternative Fakten, was fällt euch auf?", fragt der Lehrer André Löffler. "Das ist ein Oxymoron", sagt eine Schülerin.

Also doch richtig. Die Elftklässler lernen im vierten Jahr Altgriechisch, Stilmittel sind ein Kinderspiel für sie. "Zur Wahrheit gibt es eine Alternative? Protagoras würde Beifall klatschen", sagt Löffler. Es geht um den Wahrheitsbegriff der Sophisten. "Über ,Eins plus Eins ist Zwei' kann man nicht streiten", sagt ein Schüler. Doch. "Aus Sicht der Sophisten kann man mit rhetorischen Fähigkeiten alles verkaufen", sagt Löffler.

Warum soll sich ein Gymnasiast heute mit Altgriechisch befassen? Die Frage nach dem Nutzen ist legitim, im Regensburger Albertus-Magnus-Gymnasium (AMG) wird sie nicht gestellt. Wahrer Luxus sei, etwas einfach so zu lernen, lautet hier eine Maxime. "Französisch mag ich nicht, Mathe kann ich nicht und die griechische Mythologie hat mich schon immer interessiert", sagt eine Achtklässlerin. Also wählte sie Altgriechisch. "Französisch kann ich später nachlernen, Altgriechisch nicht", sagt die 13-Jährige. Noch Fragen?

Seit dem frühen 16. Jahrhundert lernen Kinder aus Regensburg und Umgebung am AMG Griechisch und Latein, aber gerade Altgriechisch wirkt heute wie aus der Zeit gefallen. Spielt das humanistische Bildungsideal in modernen Schulen überhaupt noch eine Rolle, da doch Tablets und Powerpoint-Präsentationen längst gängigere Begriffe sind als der Philosoph Platon und der Totengott Thanatos?

Das von Wilhelm von Humboldt begründete humanistische Gymnasium steht am Anfang aller Gymnasialformen. Heute gibt es in Bayern noch vier rein humanistische Schulen: das Gymnasium Fridericianum Erlangen, das Maximilians- und das Wilhelmsgymnasium in München sowie das Melanchthon-Gymnasium Nürnberg, das als ältestes Gymnasium überhaupt gilt. In diesen Schulen lernen alle Kinder erst Latein, dann Englisch, dann Altgriechisch.

Großes Interesse an alten Sprachen

Außerdem bieten 46 Gymnasien einen humanistischen Zweig an. Wer will, kann dort Altgriechisch lernen, alle anderen wählen moderne Fremdsprachen. Vergangenes Schuljahr haben in Bayern 3100 Mädchen und Buben Altgriechisch gelernt. Die Zahlen sind seit Jahren stabil, Latein belegten 132 200 Schüler. "Das humanistische Gymnasium ist auch in der Gegenwart aktuell", heißt es im Kultusministerium, dessen Chef Ludwig Spaenle einst selbst Latein und Altgriechisch gepaukt hat.

Das Melanchthon-Gymnasium in Nürnberg feiert 2026 sein 500-jähriges Bestehen. Das Logo der Schule ist die Eule der Athene sowie die Totenmaske des Reformators Melanchthon. "Die Schulart hat sich bewährt", sagt Direktor Hermann Lind. Er hat die humanistische Schule von klein auf durchmessen. 1969 kam er als Bub ans Melanchthon, später kehrte er als Latein- und Griechischlehrer zurück, nun ist er der Chef.

Der Unterschied zu anderen Gymnasien ist nicht so groß

Lind ist überzeugt, dass das humanistische Gymnasium zukunftsfähig ist. Die Unterschiede zu anderen Gymnasien seien gar nicht so groß. "Latein und Griechisch sind verbindlich, etwas weniger Informatik und Chemie, sonst ist alles gleich", sagt Lind. Der europäische Gedanke spiele eine große Rolle, ebenso Philosophie.

Kurzer Blick in eine 10. Klasse, Lateinstunde. Die Schüler lesen Seneca, es geht um die Endlichkeit des menschlichen Daseins. Wie soll man seine Zeit am besten nützen? Die Schüler machen engagiert mit. Hier geht es nicht nur um Spracherwerb, der Unterricht dreht sich, wie in Griechisch, um Fragen der Philosophie.

Erfahrung sei durch Lernen nicht zu ersetzen, sagt ein Mädchen, es gehe im Leben auch um die Kunst, glücklich zu sein. "Wir wollen die Schüler für philosophische Fragen begeistern", sagt Lind. Die Klassiker seien hochaktuell, Antigone etwa folge in Sophokles' gleichnamiger Tragödie im Streit mit König Kreon allein ihrem Gewissen - wie mutige Oppositionelle heute.

Altgriechisch und Latein seien Schlüsselfächer europäischer Kultur und des Demokratieverständnisses, heißt es im Kultusministerium. Humanistische Zweige weiterzuführen sei ein wichtiges Anliegen. Das Melanchthon-Gymnasium erfüllt dies Anliegen prototypisch.

Nicht nur beim Direktor ist ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl zur Schule auszumachen. Man kann es auch am sozialen Engagement der Schüler ablesen und an der guten Integration der vielen türkischen und griechischen Schüler. Bemerkenswert ist, dass zwei Drittel der 540 Schüler in einem der Chöre oder im Schulorchester mitwirken.

Muss Lernen Geld einbringen?

Trotzdem stellt sich die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des alten Bildungskanons. Brauchen Schüler heute mehr Latein oder mehr Informatik, mehr Literatur oder mehr Chemie? Dass sich die Gesellschaft von den alten Idealen in weiten Teilen verabschiedet hat, ist selbst in Bayern nicht zu leugnen. Jenes Humanismusbollwerk, das der Freistaat vor Jahrzehnten unter Kultusminister Hans Maier war, ist er spätestens seit der Einführung des achtjährigen Gymnasiums 2004 nicht mehr.

Die Entscheidung fiel auch auf Drängen von Politik und Industrie, die Schule den Erfordernissen der Wirtschaft anzupassen. Das hieß: Bildung soll vor allem einen berufsbezogenen Zweck verfolgen. Dabei hatte schon der antike Mathematiker Euklid (365 bis 300 v. Chr.) kein Verständnis für die Haltung, dass das Lernen Geld einbringen sollte. Die Streitfrage, ob sich Bildung ausschließlich an der materiellen Nützlichkeit orientieren soll, ist also uralt. Seit jeher aber ist ein Bedürfnis nach humanistischer Bildung zu erkennen.

Humanismus kann in vielen Formen gelehrt werden

"Nur, die Bedeutung wie einst hat der humanistische Zweig leider nicht mehr", sagt Sebastian Thammer, der Direktor des Regensburger Albertus-Magnus-Gymnasiums. In den Neunzigerjahren führte die Schule einen naturwissenschaftlichen Zweig ein. "Humanistische Bildung gibt es auch ohne Latein und Griechisch", sagt Thammer. Humanitas stehe für mehr als für alte Sprachen, das vermittle er all seinen 830 Schülern. Grundsätzlich sollten alle Gymnasien Reflexionsfähigkeit und politisches Interesse wecken.

Fragt man Klaus Wegmann, ob an seiner Schule - einem der jüngsten Gymnasien in Bayern mit wirtschaftlich-sozialwissenschaftlichem und naturwissenschaftlichem Zweig - ein humanistischer Geist wehe, reagiert er energisch. "Natürlich!" Dabei wird in Ergolding bei Landshut kein Griechisch unterrichtet, und die Lateinlehrerin wird nicht auf Lateinisch begrüßt.

Der humanistische Grundzug der Schule äußert sich anders. Schon die Architektur der 2013 erbauten Schule symbolisiert für Wegmann Offenheit, Transparenz und Demokratie - humanistische Werte.

Tatsächlich wirkt das Ergoldinger Gymnasium heller und großzügiger als die meisten Schulen. Überall ist Glas, sogar Lehrerzimmer und Direktorat haben Fenster zum Flur. Geplant wurde die Schule vom Architekturbüro Behnisch. Der Stil von Günter Behnisch, der das Münchner Olympiastadion entwarf, ist unverkennbar.

Das Zimmer der Schülervertreter liegt neben dem Direktorat. "Auf Augenhöhe", sagt Wegmann. Eltern, Lehrer und Schüler entwickeln gemeinsam das Schulprofil weiter. Zur humanistischen Bildung gehört für Wegmann neben dem europäischen Gedanken besonders die Toleranz. Den Schulhof teilen sich die Gymnasiasten deshalb mit der benachbarten Förderschule. Im Fach Ethik besprechen Achtklässler an diesem Tag, was sie sich unter Humanismus vorstellen. Es fallen Worte wie Menschlichkeit, Liebe, Respekt, Toleranz. Humanistische Begriffe an einem modernen Gymnasium, ganz ohne Altgriechisch.

Inzwischen will man wieder mehr Raum zum Lernen

Hört man sich generell an bayerischen Gymnasien um, so sagen viele Lehrer, der Humanismus spiele nur noch eine theoretische Rolle. "De facto wollen die Eltern, dass ihre Kinder auf die Wirtschaft vorbereitet werden, so dass sie später möglichst viel Geld verdienen. Alles andere gilt als unnütz", sagt ein Lehrer. Der große Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der von 1809 bis 1815 Direktor des Nürnberger Gymnasiums war, würde diese Haltung scharf kritisieren. Bildung war für ihn die Aneignung der Welt jenseits des Nutzens ökonomischer Praxis.

Neuerdings bekommt diese Haltung offenbar wieder mehr Gewicht. Nicht zuletzt der Wunsch nach mehr Zeit zum Lernen, Reifen und Vertiefen ließ Schüler und Eltern auf die Barrikaden steigen. Die Staatsregierung, die auf Drängen der Wirtschaft das achtjährige Gymnasium eingeführt hatte, kehrt nun notgedrungen zum neunjährigen Gymnasium zurück.

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