Betreuung:Bayern und das Problem mit den fehlenden Krippenplätzen

Betreuung: Die Kita Himmelszelt hat keine Freien Plätze mehr.

Die Kita Himmelszelt hat keine Freien Plätze mehr.

(Foto: Natalie Neomi Isser)

Angeblich sei der Bedarf an Betreuung nicht so groß. Die Landratsämter nennen als Grund das "eher traditionelle Verständnis von Erziehung". Doch die Mütter sagen etwas anderes.

Von Anna Günther, Traunstein

Die Türe zum Himmelszelt öffnet sich, Nele, 14 Monate, tapst entschlossen Richtung Fahrrad. Sie hat ein fröhliches Puppengesicht und dreht sich in der Sonne. Das rubinrote Kleid hat die Oma gestrickt. Die Eingewöhnung in der Krippe läuft gut, Mutter und Tochter wirken tiefenentspannt. Sabine Heim bekam den Krippenplatz, den sie braucht. Die Kindertagesstätte Himmelszelt öffnet um 7 Uhr und schließt als letzte in Traunstein um 18 Uhr die Türen. "Ohne diese Öffnungszeiten könnte ich nicht wieder arbeiten", sagt die Frauenärztin. In Traunstein gehe das ja noch mit den Plätzen, aber was Freunde aus München berichteten...

Seit vier Jahren gibt es den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz, wer keinen bekommt, kann auf die Tagespflege ausweichen, also sein Kind einer Tagesmutter anvertrauen. Betreuungsproblem gelöst. Theoretisch. Praktisch kommen viele Kommunen kaum mit dem Bau neuer Kitas hinterher.

Wenn wieder Studien zur Kinderbetreuung den Freistaat im Mittelfeld oder hinten einordnen, heißt es aus Sozial- und Kultusministerium, der Ausbau gehe voran, die Staatsregierung investiere Millionen in Qualität und Infrastruktur. Und im Landtag antworten CSU-Abgeordnete gern, dass die Familien auf dem Land kaum Krippen brauchten, dort seien noch die Omas da und die Mamas gerne die ersten Jahre daheim. Ist das wirklich so?

Die Spurensuche führt in den Landkreis Traunstein. Das statistische Bundesamt ordnete die Region zwischen Chiemsee und österreichischer Grenze bei der Betreuungsquote von Krippenkindern mit 16,3 Prozent auf Platz 398 von 402 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland ein. Bayern belegt neun der zehn letzten Plätze. Ein Grund für die geringe Nachfrage sei das "eher traditionelle Verständnis von Erziehung", heißt es aus den Landratsämtern.

Tatsächlich beziehen bis zu 86 Prozent der Familien in Bayern das Betreuungsgeld, das die Staatsregierung weiter auszahlt, seit es das Bundesverfassungsgericht auf Bundesebene kippte. Für 150 Euro im Monat kümmern sich die Eltern, meist die Mütter, daheim ums Kind. Ob Eltern sich bewusst dafür entscheiden oder weil sie keine Wahl haben, ist nicht erfasst.

Jeder förderfähige Antrag für den Bau einer Betreuungseinrichtung werde bewilligt, sagt eine Sprecherin des Sozialministeriums, wer also eine Kita bauen wollte, der könne das tun. Allerdings stellt das kleine und finanziell schwache Kommunen vor ein Problem: Selbst wenn sie den Bedarf an Krippenplätzen erkennen und mit aktuellen Geburtenzahlen kalkulieren, was offenbar nicht überall die Regel ist, müssen sie sich den Neubau und Betrieb einer Kindertagesstätte leisten können, brauchen Baugrund oder geeignete Immobilien. Denn Geld vom Staat für Bau und Betrieb gibt es nur, wenn die Kommunen selbst investieren. Die Gebühren bezuschussen ebenfalls Kommunen und der Staat, Eltern zahlen den kleinsten Teil.

Im Landkreis Traunstein wird der Bedarf laut Landratsamt mit 930 Krippenplätzen "gut abgedeckt", es gebe sogar freie Plätze. Dazu kommen 37 Tagesmütter oder -väter. Und die Großeltern.

"Das ist Quatsch, die Plätze reichen nirgends", sagt Anja Preuster, 53. Sie hat zehn Kinder, vier Enkel und ist Vorsitzende des Traunsteiner Mütterzentrums, das die Kita Himmelszelt betreibt. "Für 18 freie Krippenplätze hatten wir 20 Bewerbungen aus Traunstein und 27 aus dem Umland", sagt die Sozialarbeiterin. Aber erst wenn alle Stadtkinder unterkommen und Plätze freibleiben, darf Preuster Auswärtige annehmen. Die Nachfrage hätten alle Kommunen unterschätzt, sagt sie. "Hier saßen schon weinende Ärztinnen, die im Klinikum arbeiten." Sie konnte nichts tun.

Betreuung: Anja Preuster, 53, leitet das Traunsteiner Mütterzentrum.

Anja Preuster, 53, leitet das Traunsteiner Mütterzentrum.

(Foto: Natalie Neomi Isser)

Dabei wirkt Preuster als könne sie alles regeln. Betreuung außerhalb der Krippenzeiten? "Bringen Sie mir fünf, sechs Kinder, dann machen wir das", sagt sie und rückt Magazine im Elternzimmer der Kita zurecht, Kante auf Kante. In den Achtzigerjahren gründete Preuster die erste Stillgruppe in Südostbayern. "Die Frauen kamen in Scharen, selbst als sie längst abgestillt hatten", sagt sie.

Zur Still- kam eine Mutter/Kind- und eine Spielgruppe. 1985 gründete sie das Mütterzentrum, in dem Frauen Rat fanden und die Kinder spielten. "Das traf einen Nerv, es gab ja nix", sagt Preuster. Aus einer betreuten Spielgruppe wurden vier, seit 2011 gibt es die Kita. Vier Krippengruppen sind im Himmelszelt, die neue Kindergartengruppe spielt nebenan im alten Kreiswehrersatzamt. Provisorisch, die Kita ist längst zu klein.

"Man war drei Jahre raus aus dem Betrieb und 24 Stunden nur noch Mutter"

Betreuung: Krippe oder Tagespflege - Geschmackssache, wenn es genug Plätze gibt.

Krippe oder Tagespflege - Geschmackssache, wenn es genug Plätze gibt.

(Foto: Natalie Neomi Isser)

Auch Doris Lohr, 38, kämpfte lange mit Betreuungszeiten und ihrem Gewissen. Zwei Tage, bevor sie als Leiterin im Himmelszelt anfangen sollte, kam der Schock: schwanger. Kitas gelten wie Arztpraxen als Risiko-Arbeitsplatz, bei ihr griff das Beschäftigungsverbot. Lohr hatte ihren Job nicht einmal angetreten. Sie leitete schon einmal eine Kita und zog Emiglia, 5, allein groß. Sie wohnten im Landkreis Rosenheim, die Krippe war im Landkreis München. Morgens hetzte sie in die Krippe, zur Arbeit. Abends zurück. "Trotzdem wurde ich schief angeschaut, weil Emiglia immer die letzte war", sagt Lohr.

Im Kinderwagen quäkt es. Pia ist drei Wochen alt und hungrig. Anja Preuster nimmt das Baby, Lohr mischt ein Fläschchen. Preuster hat Lohr den Job freigehalten. "Ich hätte mich sonst nicht im Spiegel ansehen können", sagt sie. Selbstlos ist das nicht, gute Erzieher sind rar. Die pädagogische Leitung des Himmelszelts teilt Lohr sich mit Preusters Tochter. Beide haben kleine Kinder, beide wohnen in der Kreisstadt Traunstein, 20 000 Einwohner, 188 Krippenplätze.

Und wie sieht es auf dem Land aus? 13 Kilometer hinter Traunstein sitzt Carola Jungwirth an ihrem Esstisch. Küche und Katzen im Rücken, Ritterburg und Spielzone fest im Blick. Burg samt Rutsche hat Jungwirth, 38, selbst gebaut. Seit acht Jahren ist sie Tagesmutter in Waging am See, 6700 Einwohner, 36 Krippenplätze, pittoresker Ortskern, ein Campingplatz, eine Käserei. Zur Verwaltungsgemeinschaft gehört Taching, 2000 Einwohner, 15 Krippenplätze.

Betreuung: Tagesmutter Carola Jungwirth ist ausgebucht.

Tagesmutter Carola Jungwirth ist ausgebucht.

(Foto: Natalie Neomi Isser)

Fünf Kinder betreut Jungwirth, sie sind mit ihrem Sohn und ihrer Tochter aufgewachsen. Der Bedarf sei groß, sagt sie, die Plätze reichten bei Weitem nicht. Es gibt noch eine Tagesmutter im Ort und das Landratsamt sucht ständig. Die Tagespflege bietet einen Ausweg, wenn Plätze oder Betreuungszeiten nicht reichen oder Eltern ein familiäres Umfeld lieber ist.

Bis vor Kurzem gab es in Waging zwei Kindergärten und eine Kita mit zwei Krippengruppen. "Das Angebot war extrem knapp, Gruppen überbelegt", sagt Beatrice Kress. Die Gemeinde sei überrollt worden von Anfragen. Für die Geschäftsführerin der Privatkäserei Bergader kein Wunder, "wenn die Gemeinde drei Jahre alte Geburtenzahlen nutzt". Immer mehr Mitarbeiter blieben länger in Elternzeit, weil sie keine Betreuung fanden. Die Hälfte des Teams ist jünger als 40. Familiengründungsphase. Kress beschloss, die Sache selbst zu regeln und rief Anja Preuster an.

Kress gründete das Mütterzentrum in Traunstein mit und sie weiß, wie sich eine Zwangspause anfühlt. Bei der Geburt ihrer Tochter war sie 33, schied aus der Geschäftsführung des Familienbetriebs aus. Ganz aufzuhören kam nicht in Frage. "Damals begann erst, dass junge Frauen beruflich ihren Mann standen. Dann kamen die Kinder, man war drei Jahre raus aus dem Betrieb und 24 Stunden nur noch Mutter."

Sie stellte ein Kindermädchen ein. Sie weiß, dass sich das nicht jeder leisten kann. Ihre Mitarbeiter sollen sich nicht zwischen Beruf und Familie entscheiden müssen. Die Käserei bezahlt ihnen die Hälfte des Elternbeitrags. Passend zum Schichtbetrieb geht's bei den "Käsemäusen" um 5.30 Uhr los, um 22.30 Uhr ist Schluss. Die neue Kita ist seit September geöffnet, sie liegt in einer Wohnung der Käserei. Der Grundstein fürs neue Haus ist gelegt. Mitarbeiter-Kinder haben Vorrang, aber die Kita steht allen Wagingern offen. Die Krippengruppe ist bereits voll.

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