Besuch beim Puppendoktor:Der Wumbi-Heiler

Loch in der Backe? Glasauge verloren? Kein Problem für Hermann Hartmann aus Kaufbeuren. Er hat auch hoffnungslose Fälle kuriert

Von Sarah Kanning, Kaufbeuren

In der Wange der Babypuppe klafft ein scharfkantiges Loch. Wobei "Loch" fast untertrieben ist. Die halbe Wange fehlt in dem Zelluloid-Gesicht von Schildkröts "Bebi 1915". Ein Fall für die Mülltonne? Nicht wenn man einen wie Hermann Hartmann kennt. Der bekommt bei diesem Anblick leuchtende Augen. "So etwas macht mir eigentlich am meisten Spaß, das ist genau meine Spezialität", sagt der 55-Jährige mit den durchscheinenden schwarzen Haaren. Seit mehr als 20 Jahren betreibt er mitten in Kaufbeuren die kleine Puppenrestauration "D'Aprano".

Doch heute ist eine andere Puppe dran: Vorsichtig legt Hartmann eine Puppe mit seidigmatt glänzendem Biskuitporzellankopf und Holzgliederkörper auf den Tisch. "Jetzt wird erst mal amputiert", sagt er heiter und setzt sein Skalpell an. Hartmann ist der Beweis: Puppendoktoren haben einen ebenso schwarzen Humor wie Chirurgen und Rechtsmediziner.

Deutschlandweit gibt es schätzungsweise nur noch ein Dutzend Puppenrestauratoren, die sich an Puppen aus dem brennbaren Zelluloid, aus Tortulon, Vinyl und Biskuitporzellan herantrauen. Hermann Hartmann macht quasi nichts anderes. Auf seinem Operationstisch restaurierte er schon Puppen im Wert von bis zu 5000 Euro. Die älteste war von 1880.

"Schildkröt", "Ernst Heubach, Köppelsdorf", "J. D. Kestner", "Kämmer&Reinhardt" - es sind Marken, denen die Nostalgie anhaftet. Diese Manufakturen, deren Geschichte ins 19. Jahrhundert zurückreicht, fertigten Puppen für Kinder des Bürgertums, mehr zum Anschauen als zum Spielen. Heute erreichen einige der Püppchen Sammlerwerte von bis zu einigen tausend Euro. Alte Schildkröt-Klassiker, wie "Inge", "Hans" und "Christel", bringen es immerhin auf niedrige dreistellige Beträge. In den 80er und 90er Jahren produzierte Schildkröt in Kaufbeuren. Als die Firma nach Thüringen zog, eröffneten Hermann Hartmann und die Schildkröt-Restauratorin Rosa-Maria D'Aprano ihre kleine Werkstatt, die Hartmann heute alleine führt. Die Puppe mit Biskuitporzellankopf braucht neue Farbe im Gesicht. Doch zuerst trennt Hartmann die Gummis durch, die Arme und Beine am Rumpf festhalten. "Die sind mir beim Arbeiten im Weg", sagt er. Dann ist das alte Kleid dran, das mit dem Körper der Puppe von 1900 vernäht ist. "Puppen haben einen Vorteil", sagt Hartmann. "Sie schreien nicht, sie bluten nicht." Dafür machen sie andere Probleme.

Wie das Schlafaugen-Püppchen, das noch in einer Kiste liegt. Die Augen der indisch aussehenden Puppe aus den 1920er Jahren sind herausgefallen, die Augenhöhlen leer. "So sehen sie manchmal etwas gruselig aus", gibt Hartmann zu. Er glaubt, dass die Teenager, die draußen an seinem Schaufenster vorbeilaufen, sich deshalb manchmal zurufen, die Puppen seien "eklig" oder "unheimlich". In den Regalen bei D'Aprano sitzen sie in großer Zahl mit offenen Bäuchen oder ganz ohne Rumpf, mit abgesplitterten Händen oder Pflasterresten auf der Haut. Das hat dann tatsächlichen einen eher morbiden Charme. Hartmann sagt: "Ich stelle die Puppen nicht aus, ich arbeite an ihnen." Er hat so viele Anfragen aus ganz Deutschland, dass es manchmal zwei bis drei Monate dauert, bis er abgebrochene Finger rekonstruieren, Risse im Kopf verspachteln und Gesichter neu bemalen kann.

Wenn es gut läuft, braucht Hartmann etwa 15 Minuten in fisseliger Kleinarbeit, um die mundgeblasenen Glasaugen mit einer Art Gips in einem Kugelgelenk im Kopf der Puppe zu befestigen und mit Vaseline beweglich zu halten. Wenn man die Puppe hinlegt, muss sich das Auge so drehen, dass die hautfarben bemalte Seite oben ist - dann sieht es aus, als schlafe sie. "Bei Augen kommt es auf einen zehntel Millimeter an", sagt Hartmann. "Das ist die Kunst." Sonst sieht die Puppe dümmlich aus.

Die Indien-Puppe hat eine Händlerin zu Hermann Hartmann gebracht. Sie ist einige hundert Euro wert, denn in gewisser Weise ist sie ein Zeitzeugnis: In den sogenannten Exotenpuppen spiegelt sich der koloniale Blick der Europäer auf Asien und Afrika, unter dem viele dunkelhäutige Puppen zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Der Kopf der indischen Puppe aus Biskuitporzellan ist milchkaffeefarben angemalt, Wangen und Mund orangerot. Sie trägt große Goldkreolen in den Ohren und eine Art Turban auf dem Kopf.

Auch "Wumbi" ist ein solcher "Exot": Stolz und mit wildem Gesichtsausdruck trägt die dunkelhäutige Schildkröt-Puppe von 1931 einen Bastrock, Ketten, Ohrringe und einen Speer. So stellte man sich Afrika vor. Wie Hermann Hartmann weiß, ging dieser "Wumbi" bis in die vierziger Jahre vor allem in den Export. Die Nationalsozialisten wollten nicht, dass deutsche Kinder mit dunkelhäutigen Puppen spielten. Später stellte Schildkröt "Wumbi" dann auch in bayerischer Tracht her. Ein Schmankerl für die amerikanischen Soldaten, die die Puppe als Souvenir mit in die Heimat nahmen. Heute kann man Wumbi mit Bastrock als Sammlerstück in limitierter Neuauflage wieder bei Schildkröt kaufen. Für 88,40 Euro.

Hermann Hartmann mag keine Neu-Auflagen. "Ich bin sicher, dass fast jede der Puppen, die hier zu mir gebracht wird, eine Geschichte hat von Krieg, Verfolgung oder Krankheit", sagt Hartmann. Eine hundert Jahre alte Puppe hat schließlich zwei Weltkriege überdauert. Einige Geschichten kennt er, wie die von der Puppe, die ein Kind auf der Flucht aus den Ostgebieten im Leiterwagen versteckt hat. Auch aus diesem Grund nimmt der gelernte Maler und Lackierer, der sich die Puppenrestauration selbst beigebracht hat, Details so ernst: Weil es meist Privatleute sind, die ihm etwas anvertrauen, an dem sie selbst sehr hängen. Deshalb verlangt Hermann Hartmann auch Preise, die jeder bezahlen kann: 25 Euro, um alte Gummis auszutauschen, etwa 70 Euro für neue Schlafaugen. Er lebe dann eben sparsam, sagt er.

Nur am Wochenende, da nimmt er sich eine Auszeit von den fordernden Gesellen. Dann packt er die Schlafaugen zurück in den Pappkarton, schraubt das Aceton zu, mit dem er Zelluloid repariert, und schiebt die Kisten mit Ersatz-Armen und Beinen zurück ins Regal. "Da mag ich von Puppen nichts mehr sehen", sagt er nüchtern. Bis er sich am Montag in eine neue Herausforderung stürzt.

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