"Liberalitas Bavarica":Bayerns Selbstverständnis fußt auf einem Übersetzungsfehler

"Liberalitas Bavarica": Bayernbarock. SZ-Zeichnung: Dieter Hanitzsch

Bayernbarock. SZ-Zeichnung: Dieter Hanitzsch

Seit fast 300 Jahren prangt das Fundament des bayerischen Selbstverständnisses über dem Eingang zur Klosterkirche Polling: "Liberalitas Bavarica". Blöd nur, dass die Kirchenleute das damals ganz anders gemeint haben.

Von Lisa Schnell

Bayern leuchtet an diesem Vormittag: der Himmel über Polling, der Frühlingschnee auf den Bergen am Horizont. Vor dem Klosterwirt ist der Biergarten schon gut gefüllt. Die Gäste dösen in der Sonne, Hände und Füße von sich gestreckt, die Hemden aufgeknöpft. Ein Storch nistet auf dem Kamin des Klostergemäuers. Vor der Kirche schiebt sich ein Bach unter einer moosbewachsenen Steinbrücke hindurch. Gemächlich. Selbst das Wasser scheint sich heute Zeit zu lassen. Ein paar Meter vom Ufer drückt ein alter Mann in Holzfällerhemd, Hosenträgern und brauner Cordhose den Schnappverschluss von seiner Bierflasche. "Des ist die bayerische Lebensart", sagt er und zeigt auf das Kirchenportal gegenüber. Auch dort leuchtet es, in goldenen Lettern, hinaus in die Welt: "Liberalitas Bavarica."

Der Schriftzug von 1733 ist zum Wahlspruch, ja geradezu zum Markenkern der Bayern geworden. Wer möchte das nicht sein? Weltoffen und tolerant, gemütlich, großzügig, dem schönen Leben zugewandt. Leben und leben lassen. Wie liberal und locker die Bayern sind, kann man doch jeden Tag beobachten. Man denke nur an die Sonnenanbeter auf dem Odeonsplatz in München, die ihren Sprizz professioneller genießen als jeder Italiener. Oder an die Nackerten an der Isar. Und wer es nicht glaubt, der soll doch nach Polling gehen. Da steht es in Großbuchstaben - und auch noch am Eingang zur Kirche. Einen glaubwürdigeren Bürgen kann es in Bayern nicht geben.

Nur blöd, dass die Kirchenleute es damals ganz anders gemeint hatten.

Im Pförtnerhaus des Klosters sitzt eine Ordensschwester auf einer Bauernbank. Über ihrem hochgeschlossenen, weißen Kleid trägt sie eine Schürze, ihre grauen Haare verschwinden im schwarzen Nonnenschleier. An der Wand hängt ein Foto des Papstes. Um 5.30 Uhr beginnt ihr Tag. Essen, beten, arbeiten. Manchmal spielt sie mit den anderen zwei Schwestern Brettspiele. Kein Kino, kein Urlaub. Und das schöne Leben? Die Schwester verschränkt die Arme vor der Brust: "Das ist mit Liberalitas Bavarica nicht gemeint." Schade.

Die Freizügigkeit ist lediglich eine Danksagung der Kirche an die Fürsten

Das Selbstverständnis der Bayern, es fußt auf einem Übersetzungsfehler, wie er jedem Lateinschüler unterlaufen könnte: Zu Zeiten von Cicero, im 1. Jahrhundert vor Christus, beschrieb die "Liberalitas" zwar noch eine edle, freisinnige Denkungsart. Doch schon der römische Historiker Tacitus meinte hundert Jahre später damit nicht mehr als ein freigiebiges Geschenk. "Genauso wurde der Begriff auch im 18. Jahrhundert verwendet", sagt Historiker Egon Johannes Greipl. Der frühere Landeskonservator hat zur Inschrift in Polling geforscht. Die bajuwarische Freizügigkeit ist lediglich eine Danksagung der Kirche an die bayerischen Fürsten, die mit ihren Spenden den Bau des Klosters erst möglich gemacht hatten.

Dass die Klosterleute sich im Latein vertan haben, sei unwahrscheinlich, sagt Greipl. Kloster Polling war eines der geistigen Zentren Europas, mit einer Bibliothek, die ihresgleichen suchte. "Die wussten mit Worten umzugehen." Die Historie war dem Schriftsteller Wilhelm Hausenstein aber egal. In den Zwanzigerjahren übersetzte er die "Liberalitas Bavarica" mal eben als "bayerische Freiheitlichkeit - der große bayerische Zug". Das war zwar falsch, aber trotzdem genial: Der Nationalcharakter war geboren. Und den konnten die Bayern damals gut gebrauchen.

Den stolzen Bayern steckte die "Katastrophe des Bismarckreichs und des deutschen Nationalismus" noch in den Knochen, sagt Greipl. Im Deutschen Reich mussten sie sich dem preußischen Hegemon unterordnen. Nicht ganz unschuldig daran die "Liberalitas": Weil König Ludwig II. allzu freizügig seiner Bauwut frönte, konnte ihm Bismarck die bayerische Unabhängigkeit mit ein paar Millionen Goldmark aus dem Welfenfonds abkaufen.

Wie Franz Josef Strauß die bayerische Liberalität prägte

Kaum war die schöne Legende von der bayerischen Liberalität geboren, wurde sie in der Nazizeit schon wieder zertrampelt. Erst in den Siebzigerjahren blühte sie erneut auf. Der Dramatiker und Regisseur Georg Lohmeier dichtete die "Liberalitas Bavarica" um zur "Liberalitas Bavariae". Eine weitere Steigerung: Die Liberalität wird damit zum urbayerischen Wesenszug erhoben.

In den Achtzigern erfasste die Bayern tatsächlich ein gewisser Schlendrian. "Barock war wieder in", sagt Greipl. Auf Kunstauktionen gingen barocke Bauernmöbel weg wie warme Semmeln. Es war die Zeit des Champagner schlürfenden Baby Schimmerlos in Helmut Dietls Serie "Kir Royal". Und es war die Ära von Franz Josef Strauß. "Er war für die Leute die Inkarnation des bayerischen Wesens. Der barocke Politiker schlechthin", sagt Greipl.

Gedrungen, klein und rund erinnerte Strauß schon äußerlich an einen drallen Rokoko-Engel. Ihm kam die damalige Interpretation von liberal ganz recht. Greipl fasst sie so zusammen: "Geld spielt keine Rolle. Wo es herkommt, ist nicht entscheidend." Etwa aus Schmiergeldern, die Strauß als Verteidigungsminister für einen Panzerdeal kassiert haben soll. Für die bayerische Art von Freiheit hatten sie beim Spiegel in Hamburg keinen Sinn. Spätestens nach der Spiegel-Affäre war klar, wo die Straußsche Freiheitsliebe an ihr Ende stieß: bei der Pressefreiheit. Und trotzdem. Egal, worum es geht, gleich, welche Partei - in der Politik muss die "Liberalitas Bavarica" bis heute für so ziemlich alles herhalten. Von der Forderung nach Legalisierung von Cannabis bis zur Solidarität für Flüchtlinge oder Protesten gegen das Rauchverbot.

"Es ist geradezu ein Himmelsgeschenk, dass es diesen Spruch gibt"

In Polling steht die Sonne inzwischen schon ein wenig tiefer. Die Aschenbecher im Biergarten sind voll, die Gläser fast leer. Da fängt das Zweifeln an. Gibt es das denn: einen bayerischen Charakter? Der Niederbayer sei doch eher rau, wegen der schroffen Natur, heißt es. Der Schwabe gar nicht freigiebig und der Oberbayer eher arrogant als tolerant. Und überhaupt sei es bei genauerem Hinsehen mit der Toleranz in ganz Bayern nicht weit her. "I kenn di ned, aber i mog di glei, gibt's in Bayern ned", sagt eine Frau mit roten, runden Backen.

Und hat nicht gerade eine Studie gezeigt, dass in Bayern die Menschen so fremdenfeindlich sind wie in kaum einen anderem Bundesland? Selbst wenn man die "Liberalitas Bavarica" im historisch richtigen Sinne als finanzielle Großzügigkeit deutet, schneidet die bayerische Politik nicht allzu gut ab. Mal abgesehen von den Milliarden, die Bayern beim Kauf der maroden Hypo-Alpe-Adria zum Fenster hinausgeworfen hat, gibt sich der bayerische Finanzminister Markus Söder doch eher knausrig, wenn es um Kredite für die Griechen geht oder den Länderfinanzausgleich.

Aber so genau sollte man es nicht nehmen. Jeder kann sich die Liberalitas so biegen, wie er will. "Es ist geradezu ein Himmelsgeschenk, dass es diesen Spruch gibt", sagt Greipl. Lateinisch verstehe eh keiner, und irgendwas mit liberal, das klinge für jeden positiv. Und was Positives, das scheint die bayerische Seele auch heute zu brauchen.

Gegenüber vom Kloster stutzt eine Frau Buchsbäume im Schrebergarten. "Wir sind doch immer die Blöden", sagt sie. In Büchern oder Filmen, immer dieser herablassende Blick aus dem Norden auf die depperten, bierdimpfligen Bayern. Sie hält ihre Gartenschere hoch. "Die Liberalitas Bavarica, das ist unser Gegenstrom nach Norden." Und den lasse sie sich nicht nehmen, von keinem Historiker der Welt.

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