Bad Reichenhall:Bangen vor dem Urteil

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Die Schuldfrage am Halleneinsturz: Nun entscheidet das Gericht. Bei den Angehörigen der 15 Toten schleicht sich die Angst ein.

Heiner Effern

Jeden Abend vor dem Einschlafen zwingen die Gedanken Dagmar Schmidbauer wieder in die Eishalle. Sie spürt die Stille nach dem gewaltigen Krach, als das Dach heruntergekommen ist. In dem Chaos aus Trümmern sieht sie den zerschmetterten Körper einer Elfjährigen auf dem Eis liegen.

Quälende Fragen: Eine Eine Frau steht in Bad Reichenhall vor der Gedenkwand zum Andenken an die 15 Todesopfer des Einsturzes der Eishalle. (Foto: Foto: AP)

Den Körper ihrer Tochter Christina. Quälende Gedanken sind das und quälende Bilder, und nur mit großer Anstrengung hat Dagmar Schmidbauer sich eine Technik antrainiert, mit der sie sich zwingt, wieder aus der Halle hinauszugehen und wenigstens für die Nacht und einen Tag draußen zu bleiben. Am Abend kommen die Gedanken wieder.

An diesem Dienstag fällt im Landgericht Traunstein das Urteil im Prozess um den Eishallen-Einsturz von Bad Reichenhall vom 2. Januar 2006, und in den Tagen davor schleicht sich bei Dagmar Schmidbauer und ihrem Mann Robert die Angst ein. Die Angst vor einem Schicksal, wie es die Angehörigen der Opfer des Bergbahnunglücks im österreichischen Skigebiet Kaprun erfahren haben.

Die Frage nach der gerechten Strafe

Trotz langwieriger Prozesse musste dort nie jemand strafrechtliche Verantwortung für den Tod von 155 Menschen übernehmen. Die Schmidbauers spüren eine Unruhe, die sich schon am vergangenen Donnerstag, dem Tag der Verteidigung, angedeutet hat. Sechs Anwälte erklärten mehr als sechs Stunden lang, warum ihre drei Mandanten freigesprochen werden müssten. "Du fühlst dich so ungerecht behandelt", sagt Dagmar Schmidbauer.

Auch ihr Mann hat ein Plädoyer gehalten, wenige Tage vorher als Nebenkläger. "Welche Strafe ist gerecht", hat er immer wieder in die Stille des Saals hinein gefragt. "Wenn bei 15 Toten, die so brutal ums Leben gekommen sind, kein Schuldspruch kommt, dann zweifle ich an unserem Rechtssystem", sagt seine Frau in ihrem Haus in Freilassing.

Sie und ihr Mann besuchten so oft es ging den Prozess in Traunstein, weil sie wissen wollten, warum ihre Töchter Marina, 8, und Christina, 11, ums Leben gekommen sind. Weil sie durch ein Urteil belegt haben wollen, dass nicht einfach ein Unglück ihre beiden Töchter getötet hat, sondern dass dem ein Unrecht vorangegangen ist.

Die Schmidbauers sind nicht von Hass getrieben, es geht nicht darum, möglichst harte Strafen zu erreichen. Freisprüche würden sie zwar verstören, doch auch eine Verurteilung wird für sie kein Abschluss sein, es würde höchstens manches ein bisschen leichter machen, wenn sie an Gerechtigkeit glauben könnten. Zur Mitte des mehr als acht Monate dauernden Prozesses haben sie einen Sohn bekommen. Sein Kinderbett steht heute im Wohnzimmer vor dem Klavier, auf dem die Bilder der beiden Mädchen neben brennenden Kerzen zu sehen sind.

Natürlich wissen Robert und Dagmar Schmidbauer sehr genau, dass die Männer auf der Anklagebank nur als Stellvertreter einer Gruppe vor Gericht stehen, die Inkompetenz, Pfusch und Schlamperei zu verantworten hat. Das haben 27 Prozesstage eindeutig belegt.

Viele Verantwortliche aus der Bauzeit der Eislaufhalle sind bereits gestorben, und den Bediensteten in der Bauverwaltung von Bad Reichenhall, die um den Zustand des Dachs seit Jahren wussten, glaubte die Staatsanwaltschaft ihre Schuld nicht nachweisen zu können. Für zwei der Angeklagten - den Statiker Walter G., 68, und den Bauingenieur Rüdiger S., 55 - haben die Staatsanwälte Bewährungsstrafen beantragt, für den Architekten Rolf R., 64, eine Geldstrafe.

Viel zu wenig für Inge Bauer. Auch sie hat als Nebenklägerin ein Plädoyer gehalten und für die drei Männer härtere Strafen gefordert als alle anderen im Gerichtssaal. Haft, ohne Bewährung. "Die Kinder waren so voll im Leben. Sie sind uns geraubt worden durch Schlamperei und Unverantwortlichkeit. Ich will nicht, dass nun mit einem Schulterzucken alles vorbei ist", sagt sie später. Diese Botschaft hat sie den drei Angeklagten im Gerichtssaal entgegengeschleudert, voller Wut. "Sie haben alles kaputt gemacht, das sollten sie hören. Für die Anne-Kathrin."

Lesen Sie auf Seite 2, warum für ein Angehöriger nicht will, dass die drei Angeklagten verurteilt werden

Wenn nun das Urteil fällt, fürchtet Inge Bauer auch die Leere, die danach kommt. Dann kann sie gar nichts mehr tun für ihre Tochter, nicht einmal dafür kämpfen, dass ihr Tod gesühnt wird. Dann sind da nur noch die Fotos im Wohnzimmer, die Kleider im Schrank und der Besuch am Grab. Inge Bauer steht vor einem neuen Loch, in das sie fallen wird. "Wie tief das sein wird? Keine Ahnung."

Inkompetenz, Pfusch und Schlamperei: In acht Prozessmonaten ist klar geworden, dass ein ganzes Bündel von Fehlern zur Katastrophe von Bad Reichenhall führte. Deshalb halten viele die drei Angeklagten nur für Stellvertreter einer Gruppe von Verantwortlichen. (Foto: Foto: dpa)

Um überhaupt den Alltag bewältigen zu können, hat sie eine Überlebensstrategie entwickelt. Sie deckt sich so mit Aktivitäten zu, dass sie die Leere nicht mehr spürt. Sie hat eine Zusatzausbildung als Atemtherapeutin begonnen, sie leitet mit einer Kollegin eine Trauergruppe in Bad Reichenhall, sie engagiert sich für eine angemessene Gedenkstätte für die Opfer des Halleneinsturzes.

Wenn ein Kind stirbt, stirbt die Zukunft

Auch die Tage im Saal C33 des Landgerichts Traunstein gehören dazu. "Ich lebe dauernd über mich hinaus, ich kümmere mich zu wenig um mein Inneres. Bisher konnte ich das nicht, weil es zu fürchterlich war, um es auszuhalten", sagt sie. Wenn ein Partner stirbt, dann stirbt die Gegenwart, sagen Psychologen. Und wenn ein Kind stirbt, dann stirbt die Zukunft.

Für Robert Schromm wird am Tag des Urteils nicht einmal die rechtliche Aufarbeitung zum Abschluss kommen. Er hat von Anfang an klargemacht, dass die drei Angeklagten für ihn nicht schuld sind am Tod seiner Frau Michaela. "Schicken Sie diese Angeklagten nach Hause", hat er am Ende seines Plädoyers den Richtern zugerufen, als einziger der Hinterbliebenen.

Schromm hat nach dem Halleneinsturz noch am Krankenbett seiner heute achtjährigen Tochter Ricarda, die mit in der Halle war, versprochen, die Schuldigen zu finden. Und er hat sie in dem Prozess seiner Ansicht nach getroffen, wenn auch nur als Zeugen. Für ihn sitzen die wahren Verantwortlichen in der Stadtverwaltung von Bad Reichenhall, die in den Jahren vor dem Einsturz nichts unternommen hat, obwohl die Wassereinbrüche durch das Dach bekannt waren.

Für ihn wäre eine Verurteilung der drei Angeklagten kontraproduktiv, weil damit die Akten geschlossen würden, ohne dass die städtischen Mitarbeiter bestraft worden wären. Er will weiter kämpfen, doch er fürchtet auch, dass der Punkt kommt, an dem er das Gefühl hat, nichts geht mehr. Das kennen alle Hinterbliebenen, die meisten werden nach dem Prozess hart mit dem Alltag zu kämpfen haben.

Sie werden sich wappnen vor Weihnachten, vor dem Todestag am 2. Januar. Doch oft sind es die kleinen, unerwarteten Situationen, die einen so überwältigenden Schmerz auslösen. Wie neulich bei Inge Bauer, als sie nach der Schule mit dem Auto an der Ampel steht, in der Spur neben ihr eine Kollegin. Sie blickt hinüber, sieht deren Tochter am Straßenrand und hört sie "Mama" rufen. Anne-Kathrin wäre jetzt genauso alt wie dieses Mädchen.

© SZ vom 18.11.2008/hai - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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