Augsburg:Prügel im Namen des Herrn

Prozess gegen eine Lehrerin der Sekte 'Zwölf Stämme'

Marina P. ist zu zwei Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilt worden.

(Foto: Hildenbrand/dpa)

Zwei Jahre Haft: Die Lehrerin der Zwölf Stämme nimmt das Urteil mit einem Lächeln an. Der Prozess hat gruselige Details aus dem Leben in der ultrareligiösen Sekte offenbart.

Von Stefan Mayr, Augsburg

Die Angeklagte nimmt das Urteil mit einem Lächeln zur Kenntnis. Offenbar hat sie kein Problem damit, im Namen des Herrn ins Gefängnis zu gehen. Das Landgericht Augsburg verurteilt Marina P., eine Lehrerin der ultrareligiösen Glaubensgemeinschaft Zwölf Stämme, zu einer zweijährigen Haftstrafe und lässt sie noch im Gerichtssaal wegen Fluchtgefahr abführen.

Die Jugendkammer sah es als erwiesen an, dass die 56-Jährige über mehrere Jahre hinweg zahlreiche Schüler mit Weidenruten auf den Po gezüchtigt hat. Das Urteil vom Dienstag ist der vorläufige Schlusspunkt hinter dem Fall Zwölf Stämme, der seit 2001 die bayerischen Behörden beschäftigte und 2013 in einer Großrazzia in Klosterzimmern (Kreis Donau-Ries) gipfelte. Damals wurden etwa 40 Kinder der Sekte vom Jugendamt in Obhut genommen. Was ist aus den Kindern und ihren Eltern geworden? Wie geht es mit der Gemeinschaft weiter? Eine Chronologie.

2001: Die Gemeinschaft zieht aus Pennigbüttel bei Bremen in die schwäbische Provinz: Sie kauft das Gut Klosterzimmern bei Deiningen, wo sie Lebensmittel anbaut und verkauft. Zudem betreiben die Mitglieder eine Schreinerei, ein Café in Nördlingen und später eine Firma, die europaweit Solarmodule montiert.

Ihren Ursprung hat die Sekte in den USA. Ihr Gründer und Chef rechtfertigt in öffentlichen Ansprachen die Züchtigung der Kinder. Er und seine Anhänger berufen sich dabei auf das Alte Testament (Sprüche 13,24: "Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn bald."). Kritiker sehen in den Methoden vor allem einen Weg, die Kinder gefügig zu machen - um zu verhindern, dass sie einen freien Willen entwickeln und die Sekte später verlassen.

September 2001: Die Zwölf Stämme weigern sich, ihre Kinder in Regelschulen zu schicken. Sie lehnen den Sexualkunde-Unterricht und die Evolutionslehre ab. Die Eltern bekommen Bußgelder aufgebrummt, die sie aber nicht bezahlen. Stattdessen unterrichten sie ihre Kinder selbst - ohne staatliche Zulassung.

Oktober 2002: Die Polizei fährt mit Kleinbussen in Klosterzimmern vor, holt 20 Kinder ab und bringt sie in die Schule. Damit setzt das Landratsamt eine Anordnung durch und beweist Stärke. Aber gleichzeitig ist klar: Auf Dauer ist der tägliche Polizei-Transport gegen den Willen der Kinder und Eltern keine Lösung.

Oktober 2004: Die Kinder besuchen immer noch keine staatlich anerkannte Schule. Der Streit eskaliert erneut. Das Amtsgericht Nördlingen verhängt gegen 18 Eltern Beugehaft. Am 7. Oktober werden sieben Väter abgeholt. Nach sechs bis 16 Tagen werden sie wieder freigelassen.

Februar 2006: Das Kultusministerium lenkt nach langem Hin und Her ein und spricht eine Sondergenehmigung aus: Die Zwölf Stämme dürfen eine "private Ergänzungsschule" betreiben, die vom Schulamt regelmäßig kontrolliert werden soll.

Ein Journalist schleust sich ein - die Polizei rückt an

5. September 2013: In den Morgenstunden rückt ein Großaufgebot der Polizei vor den Anwesen der Sekte in Klosterzimmern und Wörnitz (Kreis Ansbach) an: Etwa 40 Kinder werden mitgenommen, ihren Eltern wird das Sorgerecht entzogen. Grund der Aktion: Ein TV-Journalist hatte sich zuvor in die Gemeinschaft eingeschleust und mit versteckter Kamera in einem Kellerraum aufgezeichnet, wie die Kinder regelmäßig mit Weidenruten geschlagen werden.

Die Kinder werden auf Heime und Pflegefamilien verteilt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen der Verdachts auf gefährliche Körperverletzung und Misshandlung Schutzbefohlener.

Januar 2015: Die Strafprozesse gegen die Väter und Mütter, die auf den Filmaufnahmen zu sehen sind, beginnen. Sie werden zu Geld- und Bewährungsstrafen verurteilt. Unterdessen arbeiten die Familiengerichte in Ansbach und Nördlingen jeden Sorgerechtsstreitfall auf. Die älteren Kinder dürfen zu ihren Eltern zurück, die kleineren bleiben in staatlicher Obhut.

Januar 2016: Erstmals wird ein Sektenmitglied wegen der Schläge zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt: Die Lehrerin Marina P. - Mittelscheitel, streng nach hinten gekämmte und zum Zopf geflochtene Haare, weite Bluse, weite Weste, weite Hosen - räumt die Züchtigung von sechs Kindern ein. Dabei betont sie, sie habe es nur gut gemeint, die Schläge hätten den Kindern gut getan. Gegen die zweieinhalb Jahre Haft legt sie Berufung ein.

April 2016: Im Berufungsprozess vor dem Landgericht Augsburg berichtet eine Zeugin, die Lehrerin habe auch ein zweijähriges Kleinkind mit der Rute auf den nackten Hintern geschlagen. Dieser Vorwurf ist neu und hat eine neue Qualität. Bislang hieß es immer, dass ältere Kinder auf die Unterhose geschlagen wurden.

Die Angeklagte stellt der Zeugin Fragen, die wie Anklagen klingen: "Wissen Sie, dass Ihre Eltern mit Schulden in die Gemeinschaft kamen und die Gemeinschaft diese übernommen hat?" Was das mit den Schlägen zu tun hat, bleibt unklar. Deutlich wird aber, welcher Druck auf einzelnen Familien der Zwölf Stämme lasten kann.

Mai 2016: Während der umfangreichen Verhandlung werden auch Befürworter der Züchtigungen gehört, die der Verteidiger als Zeugen vorgeschlagen hat. Eine Soziologie-Professorin etwa beruft sich auf Martin Luther und plädiert für die körperliche Züchtigung von Kindern.

Doch Paragraf 1631 BGB sagt: "Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig." Eine junge Frau aus der Sekte berichtet im Zeugenstand, sie habe die "liebevollen" Züchtigungen durch die Lehrerin gerne "empfangen". "Ich fand das nicht schlimm und wusste, warum es klare Konsequenzen gibt." Dass die Schläge schmerzhaft waren, bestätigt sie: "Es hat gezapft."

13. Juni 2016: Eine Aussteigerin berichtet im Zeugenstand, wie sie als Kind regelmäßig geschlagen wurde, weil sie nachts ins Bett gemacht hatte. Marina P. warf ihr vor, sie sei zu faul zum Aufstehen. Zur Strafe wurde sie kalt abgeduscht und mit der Rute geschlagen.

Eine andere Betroffene berichtet, sie sei jahrelang malträtiert worden, weil sie nicht vorlesen konnte. Ihr wurde Unwille und Rebellion unterstellt. Dass sie die Buchstaben nicht erkennen konnte, glaubte ihr niemand. Erst nach zwei Jahren wurde sie zum Augenarzt gebracht, der eine starke Kurzsichtigkeit feststellte. "Er war perplex", sagt die Zeugin, "dass ich so schlechte Augen habe und dass das nicht schon vorher behandelt wurde."

20. Juni 2016: Das Landgericht verurteilt die Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung und Misshandlung von Schutzbefohlenen zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung. Bei der Urteilsverkündung spricht der Vorsitzende Richter Lenart Hoesch deutliche Worte: "Dass einzelne Kinder die Schläge weggesteckt haben, heißt noch lange nicht, dass sie förderlich und nicht schädlich sind."

Bei einigen Betroffenen sei das Ausmaß der Traumatisierung im Prozess deutlich geworden. Zudem kündigt der Richter ein weiteres Verfahren an, in dem eine noch schärfere Strafe droht. Dabei geht es um die Schläge gegen das zweijährige Kleinkind. Seinen Haftbefehl lässt der Richter sofort vollziehen. Er geht von Fluchtgefahr aus, weil die Zwölf Stämme inzwischen nach Tschechien weitergezogen sind. "Dort hoffen sie, ihre Erziehungsmethoden unbehelligt von den Behörden fortsetzen zu können", sagt Hoesch. Noch befinden sich neun Kinder in staatlicher Obhut.

Die Angeklagte lässt sich lächelnd abführen. Ihr Anwalt kündigt an, er werde voraussichtlich Revision beantragen. Am Rande des Prozesses berichtet ein Vertreter der Zwölf Stämme, dass das Gut Klosterzimmern verkauft werden soll. "Bis Jahresende wollen wir hier weg sein."

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