Aufräumen nach der Flut:Alles auf Anfang

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Das Hochwasser hat den Menschen die Existenz zerstört, doch sie packen wieder an. Unter den Helfern sind auch 21 Flüchtlinge, die auf eigene Faust anreisten

Von Andreas Glas, Ana Maria Michel und Rudolf Neumaier

Nothilfe

Es ist halb zehn in der Früh, Walter Kreupl, 40, sitzt im Pfarrkirchener Landratsamt auf einem Stuhl, der eigentlich zu klein ist für ein Mannsbild wie ihn. Er hält ein dünnes Blatt Papier in seinen Händen, "Antrag auf Sofortgeld" steht drauf. Nachts ist ein Geldtransporter in Pfarrkirchen vorgefahren mit 1,5 Millionen Euro im Frachtraum, nun wird das Hilfsgeld des Freistaats ausbezahlt. Um 7.45 Uhr waren Walter Kreupl und seine Frau Sandra, 33, da, haben eine Nummer gezogen, haben den Antrag ausgefüllt, aber es wird noch dauern, bis er bearbeitet ist, bis sie rübergehen dürfen zum Kassenschalter, wo ihnen eine Mitarbeiterin des Landratsamts ein Bündel 100-Euro-Scheine durch die Schalterschublade schieben wird, und wo ein paar Dutzend Leute Schlange stehen, auf dem kompletten Flur, bis hinaus auf die Straße. 1500 Euro Soforthilfe, das klingt erst mal wie ein Witz. Nein, sagt Walter Kreupl, "das hilft uns sehr", dann öffnet er die Hand und zählt auf, warum ihm das Geld hilft, Finger für Finger: EC-Karte, Kreditkarte, Personalausweis. Alles davongeschwommen. "Ich würde in keiner Bank Geld kriegen", sagt Kreupl und kramt das Smartphone aus seiner Hosentasche, er kramt sie noch mal raus, die Bilder, die er nicht vergessen kann. Er hat sie vor zwei Tagen aufgenommen, auf dem Balkon seiner Wohnung in Simbach, wo ihn die Flut gefangen hielt, 14 Stunden lang. In dieser Zeit sind Autos am Balkongeländer vorbeigeschossen, Möbel und Baumstämme, er hat alles auf Handyfotos dokumentiert. Walter Kreupl ist Diabetiker, aber das Insulin war unten im Kühlschrank, als er auf dem Balkon saß. Runter ins Erdgeschoss konnte er nicht, in der Küche stand mannshoch die Brühe. Hätten die Retter ein paar Stunden länger gebraucht, sagt Kreupl, "dann wäre es aus gewesen". So aber geht es weiter, mit 1500 Euro in der Tasche, erst mal besser als nichts.

Pfarrer

Vor der Sakristei der katholischen Pfarrkirche St. Marien stehen dreckige Gummistiefel. Um 8.25 Uhr läutet der Mesner zum Gottesdienst. Fünf Frauen und ein Mann sind gekommen. Pfarrer Franz Haringer erwähnt im Eingangsgebet "die Sprachlosigkeit und das Leid dieser Stadt und ihrer Bewohner". Ihm bricht die Stimme, Pfarrer Haringer ist den Tränen nahe. Die andere Simbacher Kirche hat er der Polizei zur Verfügung gestellt. Dort liegen die fünf Hochwasser-Toten, bis das Leichenhaus am Friedhof wieder besser zu erreichen ist. Seit einem Jahr wirkt der Geistliche in Simbach. Er hat die Hilfsbereitschaft miterlebt, mit der die Simbacher im vergangenen Herbst Tausende und Abertausende Menschen empfingen, die der sogenannte Flüchtlingsstrom in die Stadt brachte. "Die Simbacher waren vorbildlich", sagt er nach dem Gottesdienst vor der Sakristei. Ausgerechnet diese Simbacher hat's erwischt. Von ihrer großartigen Energieleistung zehre die Stadt nun. Vor der Kirche tummeln sich junge Leute mit Schaufeln.

Die Innenstadt von Simbach am Inn gleicht einer gigantischen Sperrmüllhalde. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Flüchtlinge

In Bergen im Chiemgau demonstrieren Flüchtlinge derzeit gegen die Schließung ihrer Unterkunft und gegen ihre Verlegung. Friedliche Sache, ein Sitzstreik. Am Donnerstagabend kam in der großen Runde mit den Flüchtlingshelfern die Rede auf Simbach. "Hochwasser? Was ist das?", fragten die Asylbewerber. "Etwas sehr Schlimmes", antworteten die Helfer. Und dann beschlossen sie gemeinsam, nach Simbach zu fahren. Da arbeitet er jetzt, der Trupp aus Bergen: 21 Flüchtlinge aus dem Senegal, Kongo, Gambia und Pakistan und ihre vier deutschen Fahrer. Alles sehr kräftige Männer. "Wir haben drei Tage und Nächte nicht geschlafen", sagt ihr Betreuer Ivan Jevtic, den sie Sepp nennen, "aber wenn wir das hier sehen, dann ist unser Problem ziemlich klein." Den meisten Asylbewerbern sei wegen der Verlegung die Arbeitserlaubnis entzogen worden. Für ihr Zulangen in Simbach brauchen sie keine behördliche Erlaubnis. Sie wollen arbeiten, "solange die Kräfte reichen", sagt Jevtic. Nach zwei Stunden haben Mamadou Gueye, 26, Mubakar Boubazar Diallo, 23, und Drame Deadda, 34, die komplette Terrasse eines Privathauses mit Schaufeln von einer 50 Zentimeter hohen Schlammschicht befreit. Ihre Kollegen haben sich auf andere Häuser und Keller in Simbach verteilt. Die Klamotten und die Schuhe, mit denen sie im Schlamm stehen, können sie danach wegschmeißen.

Helferin

Karin Holzbauer hat sich dazu entschieden, mit der Feuerwehr Fischerdorf nach Simbach zu fahren. Sie will die Menschen aus dem Landkreis Rottal-Inn unterstützen, die ihrer Familie vor drei Jahren geholfen haben. 2013 war ihr Haus in Fischerdorf, einem Ortsteil von Deggendorf, vom Hochwasser betroffen. Die Familie Holzbauer wurde von der Bergwacht mit einem Boot aus ihrem Haus gerettet. Nachts durch das menschenleere Dorf mit dem Ruderboot, das war einer der schlimmsten Momente, sagt Holzbauer. Dass die Bilder von damals in Simbach wieder hochkommen werden, nimmt sie in Kauf. Abgeschlossen hat Holzbauer mit dem Hochwasser von 2013 noch lange nicht. "Wenn es ein paar Tage am Stück regnet, drehen sich die Gedanken im Kreis", sagt sie. Die neue Einrichtung erinnert sie täglich daran. 290 000 Euro hat die Sanierung ihres Hauses gekostet. Jetzt will Holzbauer etwas Trost nach Simbach bringen - und zeigen, dass es weitergeht.

Einwohner und freiwillige Helfer schaufelten auch am Freitag weiter Schlamm aus den Häusern und Gärten. Mit dabei waren zahlreiche Asylbewerber. (Foto: Rudolf Neumaier)

Metzgermeister

Zu den Lichtblicken und Hoffnungsschimmern, von denen der Simbacher Pfarrer und der Bürgermeister reden, gehören zweifelsohne der Metzgermeister Alois Feyrer und seine Frau Helga. Am Tag nach der Katastrophe waren sie am Boden, ihr Geschäft, ihr ganzes Haus, ihre Existenz war vernichtet. Tiefste Verzweiflung lag in ihren traurigen Augen. "Ich bin 60, da brauche ich nicht mehr von vorn anfangen", sagte Herr Feyrer. Am zweiten Tag danach aber, am Freitag, war die Depression der Zuversicht gewichen und dem Kampfgeist. "Ich bin Metzger aus Fleisch und Blut. Und mit 60 bin ich noch zu jung zum Aufhören." Die Freunde seines Schwiegersohnes, eine American-Football-Mannschaft aus Salzburg, sind zum Aufräumen da. Bis zur Neueröffnung wird's Monate dauern, aber egal. Herr Feyrer hat schon wieder Appetit auf Leberkässemmel.

Ruine

Das Haus in Untertürken ist kein Haus mehr, es ist eine Ruine. Das Dach weggerissen, nur die Westfassade steht noch, der Rest des Hauses sieht aus wie ein offenes Puppenhaus. Das Laminat im Wohnzimmer hängt herunter wie ein feuchtes Blatt Papier, an der Wand sechs kleine Bilderrahmen, unter anderem ein Hochzeitsfoto, etwas vergilbt schon, vielleicht aus den Sechzigern. Als hätte jemand vergessen, die Bilder mitzunehmen, bevor sie angefangen haben, sein Haus abzureißen. Neben der Ruine hat der Tanner Bach die Erde aufgewühlt, es türmen sich Ziegelsteine, Baumstämme, Holzbalken. Am Balkon hängt die Wäsche noch zum Trocknen, doch die Kleidung wird niemand mehr anziehen - die alte Frau, die hier gewohnt hat, ist tot. Der Tanner Bach hat sie mitgerissen, als sie noch mal hinein wollte ins Haus, um ein paar Dinge zu retten, erzählt die Feuerwehrfrau, die hier den Verkehr regelt. Das ist auch nötig, die Überführung hinter der Ruine ist komplett unterspült, die Bundesstraße 20, die dort oben entlang führt, ist gesperrt - "mehrere Wochen noch", schätzt Andreas Lechl, der Feuerwehrkommandant. Denn oben klafft ein Loch, mitten auf der Straße, zwei auf vier Meter, der Asphalt ist einfach weggebrochen. Ein paar Meter weiter hat der wütende Bach die Fahrbahn einmal komplett durchtrennt. Durch das Loch kann man runter schauen, sechs, vielleicht sieben Meter, runter zum Tanner Bach, der immer noch ein bisschen wild ist, aber schon wieder auf Kniehöhe. Als wäre nichts gewesen.

Der Schaden wird auf einen dreistelligen Millionenbetrag geschätzt. (Foto: Peter Kneffel/dpa)

Wiederaufbau

Wenn man mit Block und Kugelschreiber durch Simbach trottet, wird man öfter angesprochen. "Sind Sie der Mann von der Versicherung?" Sorry, nein. Auf den Mann warten jetzt viele. Einige sind versichert. Der Feuerwehrmann und Stadtrat Siegfried Huber vermutet aber, dass "der überwiegende Teil keine Versicherung hat". Wer kommt schon auf die Idee, gegen eine Katastrophe vorzusorgen, die von den Experten danach als "Jahrtausendhochwasser" eingestuft wird? Der Running Gag in Simbach: Wenn wir den Schlamm als Moorpackung mit Ölzusatz verkaufen, können wir den Wiederaufbau finanzieren.

© SZ vom 04.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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