Asylbewerber in Bayern:Familie auf der Flucht

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Ali Majid, hier mit seiner Frau Berevan und den Kindern Omed und Rosyan, lebt zurzeit in der Asylbewerber-Gemeinschaftsunterkunft in Immenstadt.  (Foto: Dietrich Mittler/oh)

Gewalt, Gefängnis, Folter: Ali Majid hat mit seiner Familie jahrelang die Grausamkeiten des syrischen Regimes erlitten. Sie flohen nach Europa und wurden von einem Land zum nächsten weitergereicht, bis sie im Allgäu landeten. Nun sollen sie ausgewiesen werden.

Von Dietrich Mittler

Omed Majid, der Junge aus Syrien, ist noch ein Kind, acht Jahre alt. Während der großen Pause spielt er mit den anderen Zweitklässlern der Volksschule Immenstadt Fußball oder "Schnick-Schnack-Schnuck". Doch die Zeit auf der Flucht hat ihn innerlich zerrissen. Da ist auch jener Omed, der sich als ältestes von vier Kindern erdrückend viel Verantwortung auflastet: "Ich kann nichts mit meinen Eltern machen, die weinen jeden Tag", sagt er.

Während die deutschen Freunde am Nachmittag draußen miteinander spielen, bleibt Omed bei Vater und Mutter, um sie auf andere Gedanken bringen. Blickt er in ihre Augen, dann spiegelt sich darin Angst. "Abschiebung" gehört zu Omeds Wortschatz wie für Gleichaltrige die Begriffe "Playstation" oder "X-Box". Abschiebung ist das Wort, das den wuchtigen Körper seines Vaters in sich zusammensacken lässt.

Aber was können Omeds Worte gegen die Macht der Bilder aus Syrien ausrichten, die via Internet über die Immenstadter Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber hereinbrechen? Kinder mit zerfetzten Köpfen, ein bärtiger Mann, der mit einer Blutspur über der Wange tot am Boden liegt, zerschossene Häuser, Krieger mit Hass in den Augen. "Ich schaue mir diese Sachen nicht an. Die sind schrecklich", sagt der Achtjährige in fließendem Deutsch.

Ali Majid, Omeds Vater, gäbe viel darum, könnte auch er diesen Bildern entkommen - doch sie haben Besitz von ihm ergriffen. Und so schaut sich der 33-Jährige Fotos an, die er gar nicht mehr verarbeiten kann. Der bärtige Mann mit der Blutspur über der Wange, das ist ein Onkel der Familie, ermordet von den Truppen des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Gut drei Monate sei das jetzt her. Majid scrollt wie mechanisch die Bildleiste nach oben, hält bei einem jungen Mann inne. Es ist der Schwager seiner Frau Berevan. Er wurde am 12. November von den Regierungstruppen erschossen - unter welchen Umständen, das ist unbekannt.

Der Bürgerkrieg in Syrien ist längst auch zum Krieg der Bilder geworden. Für die Freunde der Opfer sind die Aufnahmen Zeugen der Anklage. Für die Täter wiederum, die ihre Videos über Youtube veröffentlichen, sind solche Bilder Waffen, die unsichtbare Wunden reißen - auch bei Ali Majid. Jahre bevor der Bürgerkrieg in Syrien entflammte, hatte Majid bereits die Härte des Regimes zu spüren bekommen. Als Ladenbesitzer war er zwar - oberflächlich gesehen - ein Mann mit gesicherter Existenz. Doch als Kurde, der sich zu seiner Identität bekannte und dafür auch politisch eintrat, war er aus Sicht des Regimes ein subversiver Gegner, dem keine Rechte zustehen.

1996 wurde Ali Majid - wie er sagt - das erste Mal ins Gefängnis gesperrt, weil er am kurdischen Feiertag "Newroz" mit Gleichgesinnten an einer verbotenen kulturellen Veranstaltung teilgenommen hatte. Im Jahr 2004 kam es dann noch schlimmer: "In meiner Stadt demonstrierten die Menschen für ihre Freiheit, aber viele von ihnen verloren an diesem 21. März ihr Leben", sagt er. Ali Majid geriet erneut ins Visier der politischen Polizei. Nachts um halb drei, so erzählt er, standen am 6. April 2004 - "wie könnte ich das jemals vergessen" - plötzlich uniformierte Männer mit ihren Waffen in seiner Wohnung und zogen ihn aus dem Bett.

Majids Stimme gerät ins Stocken, wenn er davon erzählt. Er streckt seine vernarbte Hand vor: Spuren einer Verbrennung. "Meine Augen waren verbunden, ich weiß nicht, was sie mit mir gemacht haben", sagt er, "es brannte so heiß." In den folgenden zwei Monaten sei er immer wieder nackt mit einem Kabel geprügelt und mit Stromschlägen gefoltert worden. "Die letzten eineinhalb Monate geschah das jeden Tag", sagt Ali Majid. Seine Frau sei seitdem nicht mehr wie früher. "Sie kann das nicht vergessen", sagt er.

In einem Gutachten ist festgehalten, was Berevan Yousef Al Haji, so lautet ihr Name, angetan wurde: Obwohl sie zu dieser Zeit schwanger war, wurde auch sie mit der Waffe bedroht. Kurz darauf erlitt sie eine Fehlgeburt. "Sie braucht dringend eine Psychotherapie", sagt Heinz Greiner, der die Familie seit gut einem Jahr als Mitglied des örtlichen Arbeitskreises Asyl betreut. Ein Arzt aus Immenstadt hat der Frau inzwischen ein "depressives Syndrom" attestiert. Die Patientin könne keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ein psychodiagnostischer Befund der Initiative "Exilio" bescheinigt ihr zudem eine posttraumatische Belastungsstörung. Sie sei auf gar keinen Fall reisefähig.

Doch weder das Attest noch der Exilio-Befund werden vermutlich ausreichen, um die Familie vor einer drohenden Überführung nach Italien zu bewahren. Italien - hier spielt ein weiterer Akt im Drama um die sechsköpfige Familie, und das kam so: Ali Majid wurde 2010 in Syrien erneut festgenommen und bald darauf nach weiteren Misshandlungen mit der Forderung konfrontiert: "Du gehst für uns auf Demonstrationen und gibst uns die Namen der anderen." Wenn er kooperiere, erhalte er für jeden Namen Geld. Wenn nicht, komme er ins Gefängnis, seine Kinder sehe er dann auch nicht mehr. "Ich habe ihnen gesagt, bitte gebt mir etwas Zeit", erzählt Majid. Schließlich habe er seinen Laden verkaufen können und mit dem Geld einen Fluchthelfer bezahlt - 30 000 Euro für den Transfer der Familie via Algerien nach Italien.

Noch am Flughafen in Rom wurde die Familie festgenommen. "Man nahm Fingerabdrücke und ließ uns nach drei Tagen wieder raus - mit einem Papier in der Hand, binnen vier Wochen Italien zu verlassen", sagt Majids Frau Berevan. Kurz darauf seien sie mit ihren Kindern auf der Straße gestanden. "Das ist kein Einzelfall", sagt Agnes Andrae vom Bayerischen Flüchtlingsrat. In Italien gebe es viel zu wenige Unterkunftsplätze für die vielen Flüchtlinge. "So ist ein Großteil von ihnen gezwungen, in der Obdachlosigkeit zu leben", sagt sie. Ohne den Schutz eines Zuhauses seien die Asylsuchenden in Italien immer wieder "rassistischen Übergriffen" ausgesetzt.

Aus Omeds Kindermund hört sich das so an: "Da waren so viele Menschen, die wollten uns schlagen. Die waren stark - und dann sind wir gerennt." Auf einem Spielplatz habe die Familie einen Zufluchtsort gefunden, wo sie in Ruhe gelassen wurde. Zu allem Unglück aber wurde die mittlerweile dreijährige Rosyan schwer krank. Doch für Flüchtlinge ohne Unterkunftsnachweis gibt es in Italien keine medizinische Behandlung. Ein Verwandter aus Frankreich holte die Familie mit dem Auto über die Grenze. Rosyan wurde in der Klinik versorgt. Danach, so hieß es, müsse die Familie das Land verlassen. Ali Majid entschloss sich erneut zur Flucht - nach Deutschland, wohin er ohnehin wollte.

Nach mehreren Stationen wurde die Familie in der Immenstadter Gemeinschaftsunterkunft untergebracht. Bis Ende September durfte Majid hoffen, dass sich die Dinge zum Guten wenden. Dann traf ein Schreiben des Münchner Anwalts Hubert Heinhold ein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge habe an Italien ein sogenanntes Übernahmeersuchen im Sinne des Dubliner Abkommens gerichtet. "Das entspricht einer Vorbereitung zur Ausweisung", sagt Heinhold.

"Wenn eine solche Entscheidung kommt, werden wir alle Hebel in Bewegung setzen, damit psychiatrische Gutachten für Ali und Berevan erstellt werden, die auch vor Gericht Bestand haben", sagt Asylhelfer Greiner. Für diese Familie sehe er große Chancen, dass sie hier Fuß fassen kann. "Ali ist hilfsbereit", sagt er. Zudem habe er den Familienvater als ehrlichen und verantwortungsvollen Menschen kennengelernt. Doch gerade dieses Verantwortungsbewusstsein wird für Ali Majid nun zur Gefahr. Um seine Familie nicht zu belasten, hat er sich nicht um ein Trauma-Gutachten für sich selbst gekümmert. "Wenn ich zum Arzt gehe und der meinen Zustand sieht, dann ist das nicht gut für meine Familie", sagt er. "Ich will nicht, dass meine Frau und meine Kinder einen schwachen Mann sehen. Das macht sie kaputt."

Unterdessen hat der Flüchtlingsrat im Landtag eine Petition eingereicht, um eine drohende Überführung nach Italien zu verhindern. Doch noch ist das Schicksal der Familie ungewiss. Omed verfolgt das bis in seine Träume. Neulich, so sagt sein Vater, habe sein ältester Sohn im Schlaf gesprochen - drei Worte nur: "Ich gehe nicht."

© SZ vom 04.12.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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