Altenpflege in Bayern:Arbeiten am Limit

Pflegekraft

Pflegekräfte in Altenheimen schuften oft jenseits der Belastungsgrenze.

(Foto: dpa)

Keine Krankenhausatmosphäre, kein Uringeruch, stattdessen idyllische Umgebung: Der Eindruck beim Besuch eines der besseren bayerischen Altenheime ist positiv - zumindest anfangs. Denn auch dort kämpfen die Pflegerinnen mit der enormen Arbeitsbelastung.

Von Sarah Ehrmann

Dieser Blick in den Badezimmerspiegel: Als sähe sie eine Fremde und nicht sich selbst. Vom Schlaf abstehende kurze Haare, der Kiefer zahnlos, die Nase mit dem Höcker. "Irgendwas ist mit meiner Nase", sagt sie langsam. "Die Hand will auch nicht richtig. Aber ich weiß nicht, wann das passiert ist." Mihaela Matei berührt die Frau an der Schulter. "Sie sind in Ihrem Zimmer gestürzt, meine Gute", sagt sie weich. "Sie haben sich die Hand gebrochen, aber jetzt ist alles wieder gut." Auf dem Schränkchen liegt der am Vortag abgenommene Gips. Der Sturz auf die Nase ist Jahre her.

Aber was bedeuten schon Zeit und Raum für die alte Frau? Sie ist dement, wie 56 andere Bewohner im Haus der Senioren in Wolnzach, Hallertau. Sie vergisst Dinge, die im Kurzzeitgedächtnis gespeichert werden sollten. An diesem Tag weiß sie nicht, wie alt sie ist. Aber sie erinnert sich, dass sie 1926 geboren wurde. Krankenschwester Mihaela Matei wird später in der Akte notieren: "etwas desorientiert".

Das Haus der Senioren ist ein Heim für 123 Menschen. Ein ganz normales Altenheim in Bayern, wunderschön gelegen zwischen Obstbäumen in einem Terrassengarten, vor der Tür hoppeln Kaninchen. Hier leben ganz normale Menschen, keine Schickimickis, keine Suchtkranken, sondern ehemalige Bauern, auch Akademiker. Es ist eines von den günstigeren, aber auch eines von den besseren Heimen, sagt das Bayerische Rote Kreuz, das die Einrichtung finanziert. 1620 Euro müssen Bewohner der Pflegestufe 1 für ein Einzelzimmer zuzahlen. Auf den Gängen riecht es weder nach Krankenhaus noch nach PVC oder Urin. Der erste Eindruck: Passt doch alles. Oder?

Mihaela Matei hat Arme, die zupacken können. Sie stammt aus Südrumänien, vor 13 Jahren kam sie nach Deutschland - der Liebe wegen. Es ist sieben Uhr früh, Matei ist schon seit einer knappen Stunde im Dienst. Zehn Bewohner hat sie geweckt, "Guten Morgen, mein Lieber, guten Morgen, meine Gute." Alle wollen vor acht fertig gerichtet sein, sonst haben sie das Gefühl, beim Frühstück komisch angeschaut zu werden. Matei ruft in halb taube Ohren, wäscht Hände und Füße, stützt, hält, schiebt, wechselt Windeln. Sie mache ihren Job gern, sagt sie, lieber als im OP zu arbeiten, was sie vorher gemacht hat. Einerseits.

Schriftliche Rechtfertigung für jeden Handgriff

Andererseits: Da sind diese langen Tage, die Zeit, die sie früher kommt und später geht, die kurzen, minutengenau getakteten Zeiten fürs Waschen, Anziehen, Medikamente verteilen, die schriftliche Rechtfertigung für jeden Handgriff. Das zehrt sie auf. Unter Mateis Augen liegen Schatten. Den Satz "wir sind am Limit" bringt sie nicht über die Lippen. Kolleginnen sprechen ihn aus. Sie sagen ihn oft an diesem Tag. Es liegt nicht am Haus, das gut aussieht, gute Noten hat, und in dem Heimleiterin Manuela Böhland viel dafür tut, dass Mitarbeiter und Bewohner sich wohlfühlen. Es ist das System.

Überlastung, unterbesetzte Stationen, Fachkräftemangel, zu viele Alte für einen Pfleger, Bewohner, die schon schwer krank und dement ins Altenheim umziehen und sich nicht mehr eingewöhnen können - in den vergangenen Jahren haben sich die Probleme verschärft. Geld ist knapp, Zeit noch knapper, nur alte Menschen gibt es immer mehr. Die Leidtragenden sind die Schwestern mit dem großen Herz, die sich für die Arbeit aufreiben.

Elke Schneider ist die Dienstälteste. Sie kennt das Jetzt, aber auch das Früher. "Es ist schlechter geworden", sagt sie. Sie ist 47, man traut ihr auf Anhieb zu, dass sie nachts das halbe Haus allein versorgt. "Das sind meine Kinder", sagt sie auch und zeigt auf eine Gruppe Weißhaariger, die sich gerade über Kaffee, Zucker und Milch hermacht. Als sie in dem Beruf angefangen habe, sei das Verhältnis zwischen Bewohnern und Personal in Ordnung gewesen. Die fünf Schwestern im Team waren immer da - egal, ob einer mehr oder weniger auf der Station wohnte.

Heute zwingt der Personalschlüssel den Heimen ein enges Korsett auf. Die Statistik sagt: Je nach Pflegestufe stehen einem Bewohner täglich 45 Minuten, 120 Minuten oder 240 Minuten an Grundpflege zu. Bei Pflegestufe 1 ist ein Pfleger für 6,7 Bewohner zuständig. Kommt ein Bewohner ins Krankenhaus, muss eine Schwester Urlaub nehmen oder Überstunden abbauen.

Nachts sind zwei Pfleger für 112 Alte zuständig

Mihaela Matei schmiert Zahncreme auf die Bürste und reicht sie der grauhaarigen Frau. Aktivierende Pflege nennt man das, wenn sie einfache Handgriffe anleitet, statt sie selbst zu tun - was schneller ginge. Auch wenn sie mit einer Bewohnerin zur Toilette geht und ihr aus dem Rollstuhl hilft, statt später die Windeln zu wechseln. Es braucht Zeit - und die ist rar auf den Stationen. Am Tag, da geht es noch. Nachts aber sind zwei Schwestern allein im Haus: zwei Junge für 112 Alte. "Zu 90 Prozent schlafen sie durch", sagt die Heimleitung. "112 Bewohner, davon die Hälfte dement - das ist nicht in Ordnung", sagt BRK-Geschäftsstellenleiter Leonhard Stärk. Demenzkranke wachen auf, klingeln nachts, manchmal fünfmal.

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In einem Rollstuhl fährt Mihaela Matei ihre Stationsbewohner zum Frühstück. Im ersten Stock schmieren Betreuer Brote für diejenigen, die es nicht mehr selbst können. Im Erdgeschoss frühstücken die Rüstigeren an ihrem Stammplatz.

Das Haus der Senioren war eines der ersten, das Berichte des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) auf der Internetseite veröffentlichte. Er bewertet die Einrichtungen, die Noten sind selten schlechter als 2,0 - das Haus der Senioren hatte im vergangenen Jahr eine 1,4. "Ein mängelfreies Haus gibt es nicht", sagt Stärk. Er spricht Probleme offen an, damit sich etwas ändert. Aber er sagt auch: "Ändert sich nichts, laufen wir in eine Katastrophe." Inzwischen sei das Sparen und das Dokumentieren eines jeden Handgriffs wichtiger als die Zeit für die Menschen. "Das System ist so prekär, dass eine menschenmögliche Pflege nicht mehr möglich ist", sagt Stärk. "Außer wenn sich die Mitarbeiter aufarbeiten." Die Folgen sind: Überforderung, Fehler, Burn-out.

Auch in Wolnzach opfern die Mitarbeiter einen Teil ihrer Freizeit, damit es den Bewohnern gut geht. Es kostet Kraft, den Slogan "Wenn Menschlichkeit zum Markenzeichen wird" durchzuhalten. "Das Sozialleben fällt hinten runter", sagt eine Stationsleiterin. "Ich glaube nicht, dass ich das bis zur Rente machen kann", sagt eine Schwester. "Abends bin ich brotfertig."

Um die Mittagszeit kocht Mihaela Matei zum ersten Mal Kaffee. Sie hält ihre Tasse mit beiden Händen, während im Frühstücksraum Demenzkranke Gymnastik zu Volksmusik machen. Die Ringe unter ihren Augen sind dunkler geworden. Doch sie hat noch einige Stunden vor sich. "Wenn ich heimkomme, lege ich mich erstmal hin", sagt sie.

Am nächsten Tag um kurz nach sechs Uhr geht es weiter.

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