AKW Temelin soll erweitert werden:Kämpfen gegen den Nachbar Atomkraftwerk

Bayerische Bürger sind besorgt: Das Atomkraftwerk im tschechischen Temelin wird ausgebaut. Seit zwölf Jahren kämpfen Anwohner gegen den Reaktor hinter der Grenze - auch wenn es schwierig geworden ist, Leute zu mobilisieren.

Wolfgang Wittl

Ohne seine Frau würde Bernd Scheibner jetzt kaum am Schreibtisch sitzen und in einem dicken Ordner mit Umweltverordnungen blättern. Er würde nichts wissen von Jod-Prophylaxe und Primärkreisläufen, von EU-Richtlinien und Kühlwasserleitungen. Es fügte sich aber so an einem Donnerstag im Oktober 2000, dass Scheibner von einer Tagung zurückkehrte und ihm seine Lebenspartnerin beschied: Jetzt sei es genug, man müsse dringend etwas unternehmen gegen dieses Monstrum hinter der tschechischen Grenze. Zwei Tage später stand Scheibner in einem Passauer Einkaufszentrum und sammelte Unterschriften gegen das Atomkraftwerk in Temelin.

A man rides his bicycle away from the the cooling towers of the Temelin nuclear power plant near Tyn nad Vltavou

Die Kühltürme von Temelin, sechzig Kilometer hinter der tschechisch-bayerischen Grenze. Das Kraftwerk soll von zwei auf vier Reaktorblöcke erweitert werden.

(Foto: Reuters)

Bis zu diesem Herbsttag habe er ein ruhiges bürgerliches Leben geführt, erzählt der pensionierte Oberstudiendirektor. Er engagierte sich im Roten Kreuz und in der Seniorenarbeit, über Kernkraft machte er sich keine Gedanken. Doch in jenem Herbst schlossen sich die Temelin-Gegner zur "Überparteilichen bayerischen Plattform gegen Atomgefahr" zusammen und bestimmten den heute 73-Jährigen zu ihrem stellvertretenden Anführer in einer Auseinandersetzung, von der niemand weiß, ob sie jemals zu gewinnen sein wird.

Käme es ihnen nur auf Sieg oder Niederlage an - die Gegner von Temelin müssten längst aufgegeben haben. Vor zwölf Jahren warfen sie ihre ganze Kraft in die Waagschale, organisierten spontane Demonstrationen, schalteten große Anzeigen, nervten Politiker. Genützt hat es nichts. Etwa 130 Störfälle wurden in Temelin bis heute gezählt. Und für die tschechischen Betreiber ist das kein Grund, den jetzt geplanten Ausbau von zwei auf vier Reaktoren in Frage zu stellen. Für Scheibner sind es aber 130 Gründe, sich dagegen zur Wehr zu setzen.

Seinen Ruhestand habe er sich anders vorgestellt, sagt der pensionierte Oberstudiendirektor. 1964 trat er in die CSU ein, weil ihm die Partei sympathisch war. Ein höheres Amt als das des Kassenprüfers lehnte er ab, da es sich nicht mit dem Beruf vertrug. Als Leiter der kaufmännischen Berufsschule in Passau unterstanden ihm 2300 Lehrer und Schüler, Scheibner wollte nicht parteipolitisch angreifbar sein. Von Atomkraft hatte der studierte Wirtschaftswissenschaftler wenig mehr Ahnung als der frühere Innenminister Friedrich Zimmermann, der nach Tschernobyl empfahl, man solle bei Regen die Tasche über den Kopf halten. Heute referiert Scheibner aus dem Stegreif über alle Facetten der Kernenergie. Einmal hat er sogar eine Fortbildung der Schweißerinnung besucht, um den ordnungsgemäßen Zustand von Heißdampfleitungen besser einschätzen zu können.

Die Menschen für die Gefahr sensibilisieren

Wie viele andere Atomkraftgegner wird auch Scheibner an diesem Dienstag in der Passauer Dreiländerhalle die informelle Anhörung der tschechischen Regierung besuchen, obwohl ihm davor graut. Er erwartet eine "Pseudoveranstaltung mit Persilschein-Charakter", eine "hanebüchene Show". Das Gutachten, das derzeit in deutschen Ämtern ausliegt und das Transparenz schaffen soll, hat seine Vorahnung bestärkt. Knapp 2000 Seiten ist es stark, doch alle relevanten Inhalte würden fehlen. Die "Plattform gegen Atomgefahr" wird sich mit einer Mahnwache bemerkbar machen - doch der Schwung der ersten Jahre ist allmählich verpufft.

Bernd Scheibner

Vier Aktenordner füllt das Archiv der Plattform der Atomkraftgegner. Und Bernd Scheibner gibt nicht auf.

(Foto: Wolfgang Wittl)

Zwar zählt die Plattform mehr als 2000 Mitglieder, aktiv sind jedoch nur einige wenige. Trotz Fukushima fällt es schwer, die Bevölkerung zu mobilisieren. "Viele meinen, mit ihrer Unterschrift haben sie bereits genügend getan", sagt Scheibner. In vier Aktenordnern hat er Zeitungsartikel und Briefwechsel gesammelt: Drei Ordner benötigte er für die ersten fünf Jahre, der vierte ist nach weiteren sieben Jahren immer noch nicht voll. Und ins Gästebuch der Plattform-Homepage hat sich seit der erneuten Öffnung vor eineinhalb Jahren gerade mal ein einziger Beitrag verirrt.

Beim ersten Widerstand gegen die Inbetriebnahme von Temelin brachten die Gegner 77 000 Unterschriften zustande, 60 000 mehr als heute. Es war die Zeit, als der Begriff regenerative Energie etwas für Fachleute war und die CSU den Kontakt zu Atomgegnern lieber vermied. Schließlich gestattete die Staatskanzlei die Übergabe der Unterschriften beim politischen Aschermittwoch 2001. Bedingung: im Hinterzimmer, bloß keine Öffentlichkeit. Scheibner waren "die Wünsche der königlich bayerischen Staatsregierung egal".

Er trommelte 40 Jugendliche zusammen, der überrumpelte Ministerpräsident Edmund Stoiber musste gute Miene machen, örtliche Medien berichteten. Anschließend trat Scheibner aus der CSU aus und in die ÖDP ein, deren Landesvorstand er sechs Jahre angehörte. Dass die Politik heute von der Notwendigkeit des Energiewandels überzeugt ist, dieses Gefühl hat er noch nicht verinnerlicht. Dafür sei es schick geworden, sich mit Kernkraftgegnern zu schmücken: Bei Veranstaltungen staunt Scheibner oft, wie begeistert Politiker auf Seiten der Temelin-Kritiker stünden - und wie wenig später dabei herauskomme.

So bleiben die Plattform-Leute auf sich gestellt: Bernd Scheibner schreibt an Abgeordnete, hält Vorträge, trifft Verbündete in Österreich und Tschechien. Ihrer Bedeutung sind sich die Umweltaktivisten durchaus bewusst: Man dürfe von einer kleinen Gruppe nicht erwarten, dass sie die Energiepolitik eines Staates ändern könne. Der Temelin-Ausbau werde - wenn überhaupt - eher an wirtschaftlichen Aspekten als am Protest scheitern. Aber Menschen für die Gefahren zu sensibilisieren, das sei möglich. Wohl auch deshalb gibt Bernd Scheibner auf die Frage nach seinem Antrieb stets dieselbe Antwort: "Weil es notwendig ist."

Jeder darf Widerspruch anmelden

Deutsche Bürger dürfen protestieren

Es ist ein brisanter Termin: An diesem Dienstag werden 40 tschechische Atomexperten in Passau erwartet. In der Dreiländerhalle stellen sie sich den Vorwürfen und der Kritik der bayerischen Kernkraft-Gegner an den Plänen für den Ausbau des Atomkraftwerks im südböhmischen Temelin. Zwar wird die Veranstaltung kaum etwas am Willen der tschechischen Regierung ändern, die zwei neuen Reaktoren zu errichten. Aber im Umweltministerium wertet man den Termin als Zeichen des guten Willens, zumindest für Transparenz in dem erbitterten Streit um Temelin zu sorgen.

Das höchst umstrittene Projekt ist in seiner heißen Phase. Derzeit läuft die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) für die neuen Reaktoren. Sie ist nicht nur zentraler Bestandteil des gesamten Genehmigungsverfahrens. Sie erfolgt nach internationalem Recht - schließlich hätte ein Störfall in dem nur 60 Kilometer von der bayerisch-tschechischen Grenze entfernten Atomkraftwerk massive Auswirkungen auf Bayern, wie übrigens auch auf Österreich. Deshalb dürfen die Nachbarstaaten Position beziehen.

Seit 6. Mai liegt in allen grenznahen Landratsämtern und den Rathäusern von Hof, Weiden und Passau das knapp 2000 Seiten starke Gutachten zur UVP aus. Bis 18. Juni kann ein jeder dazu Einwände und Kritik vorbringen. Und am 22. Juni findet im tschechischen Budweis eine offizielle Anhörung statt, zu der natürlich auch Gäste aus Bayern zugelassen sind.

So massiv die Kritik aus Bayern an den tschechischen Plänen ist, so gering ist das Interesse an dem Gutachten. Bislang kam kaum jemand in die Landratsämter oder Rathäuser, um sich in den Wälzer zu vertiefen. Für Experten wie Christa Hacker vom Münchner Umweltinstitut ist das nicht verwunderlich. "Zum einen ist das lauter Fachchinesisch, ein normaler Mensch versteht das nicht", sagt sie. "Zum anderen lassen die tschechischen Gutachter ganz zentrale Vorgaben außen vor." So steht nach wie nicht fest, welcher Reaktortyp in Temelin eingebaut werden soll. Das Umweltinstitut prüft deshalb eine Klage.

Die Temelin-Gegner machen derweil lieber Gebrauch von der Mustereinwendung, welche das Umweltinstitut ins Internet gestellt hat. Bis Ende vergangener Woche hatten bereits 18.000 per E-Mail ihren Widerspruch im Umweltministerium in Prag angemeldet.

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