Abschaltung des AKW Grafenrheinfeld:Geliebtes Monstrum

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Stromerzeuger, Arbeitgeber, Hassobjekt: Das Atomkraftwerk Grafenrheinfeld steht auch für eine politische Epoche in Bayern. (Foto: Getty Images)

Grafenrheinfeld geht vom Netz - endlich, sagen viele Menschen in der Region. Das Kernkraftwerk hat in der Gemeinde das Leben von Befürwortern und Gegnern geprägt. Zur Stilllegung ziehen sie Bilanz.

Von Annette Zoch und Olaf Przybilla

Es ist ein epochales Ereignis. 33 Jahre lang stiegen Dampfschwaden aus den Kühltürmen des Atomkraftwerks in Grafenrheinfeld. Nächste Woche ist Schluss damit. Wie haben die Menschen dort die Zeit mit dem Werk erlebt? Was erwarten sie? Die SZ hat sich umgehört.

Gerhard Riegler AKW-Chefsanitäter

Man sagt das ja so leicht: Der hat dieses Werk mit aufgebaut. Aber bei Gerhard Riegler trifft das tatsächlich mal so zu. Als die Grube des Kernkraftwerks Grafenrheinfeld ausgehoben wurde, stand Riegler in Gummistiefeln im Erdreich und buddelte mit. Damals noch für eine andere Firma, später wurde er Betriebssanitäter im Kraftwerk und inzwischen ist er dort Chefsanitäter. Riegler ist der Mann, der die anderen Sanitäter anleitet und die Werksmitarbeiter in Strahlenschutz unterweist. Und nebenher ist Riegler auch Gemeinderat in Grafenrheinfeld für die CSU.

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Man konnte Riegler in verschiedenen Gemütsverfassungen erleben in den vergangenen Jahren. Dass er als christsozialer Gemeindepolitiker und Mann der ersten Stunde immer für das Kraftwerk argumentierte, dürfte kaum überraschen. "Wir machen einen tipptopp Job hier, rein sicherheitstechnisch", sagte Riegler noch vor vier Jahren. Er könne nur jedem empfehlen, sich ein eigenes Bild davon zu machen.

Damals war die Stimmung gerade am Kippen in Grafenrheinfeld, einem Ort, im dem Atomkraft zuvor nie ein Reizwort gewesen war. Aber dann: erst Fukushima. Zudem der Ärger, weil aus dem Werk plötzlich keine Steuern mehr in die Gemeindekasse flossen. Und dann auch noch kreisende US-Kampfjets, die ausgerechnet in der Nähe eines Atommeilers trainierten. Da fiel es sogar in Grafenrheinfeld allmählich schwer, für ein AKW zu kämpfen. Riegler versuchte es trotzdem. Aber er wurde doch nachdenklicher. Eine Resolution gegen die Kampfjets unterschrieb auch er. Das erste Mal, dass er so was machte. Und nun?

"Klar ist man traurig", sagt er. Immerhin habe er 35 Jahre die Geschichte dieses Werkes begleitet und das vor sich und anderen immer vertreten können. Was ihn besonders nachdenklich mache: Kürzlich wurde in Schweinfurt, gleich nebenan, ein "Abschaltfest" gefeiert, ein bisschen zu früh. Riegler sagt, er könne ja die Argumente von Kernkraftgegnern grundsätzlich verstehen, das sei nicht der Punkt. Er sei eben zu einer anderen Bewertung gekommen. Was er aber nicht verstehen könne: Dass dort gefeiert werde, und "keiner an die Leute denkt, die ihren Arbeitsplatz verlieren". Ob man das denn sonst von irgendwo kenne, fragt er: Dass die Geschichte eines großen Werkes zu Ende gehe, "und keiner fragt, wie es den Mitarbeitern geht?"

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Zwar wird niemand entlassen. Viele Kollegen gehen in den Vorruhestand und bis 2016 werden erst mal nur 90 Kollegen weniger beschäftigt sein im AKW: Es gibt eben noch viel zu tun, auch wenn der Meiler jetzt abgeschaltet wird. Aber dass das Schicksal dieser Leute so gar keinen interessiere, "das tut schon weh", sagt Riegler. Er selbst wird demnächst 60, ein Jahr später wird auch er in den Vorruhestand gehen. Davor aber kommt dieser Tag, der 27. Juni 2015, an dem das Werk abgeschaltet wird. Auch an diesem historischen Tag wird er eine aktive Rolle spielen, wie schon beim Aufbau des Meilers. Riegler ist auch Zweiter Bürgermeister der Gemeinde, es kommt Arbeit also auf ihn zu an dem Tag. Vom Anfang bis zum Ende immer dabei. "Schon ein komisches Gefühl", sagt er.

Sabine Lutz, Bürgermeisterin

Die Bürgermeisterin ist "froh, wenn es rum ist". (Foto: dpa)

Die Blondine mit der großen Klappe sitzt lässig auf einer Kommode im Amtszimmer der Bürgermeisterin. Breitmaulpuppe Lisa war ein Geschenk der Mitarbeiter der Gemeindebibliothek an Grafenrheinfelds Bürgermeisterin Sabine Lutz. Auf die Frage, ob die Puppe Rückschlüsse auf ihre Besitzerin zulässt, lächelt Lutz nur zweideutig. Die parteilose Rathauschefin hat in den vergangenen Wochen viele Journalisten empfangen, und sie kann es langsam nicht mehr hören: "Ich bin froh, wenn es rum ist. Bald ist Grafenrheinfeld halt nur noch eine ganz normale Kommune, aber das ist auch okay", sagt die 55-Jährige.

Jahrzehntelang konnte die 3500-Einwohner-Gemeinde aus dem Vollen schöpfen, den Gewerbesteuereinnahmen von Eon sei Dank. "Wir haben eine Infrastruktur wie eine Kleinstadt", sagt Lutz. Eine Kulturhalle mit mehr als 500 Plätzen, eine Gemeindebibliothek, eine Dreifach-Sporthalle, eine Schule, zwei Kitas. Nicht weit entfernt vom Rathaus findet sich ein adrett gepflasterter Kirchplatz mit Fahrradständern aus Edelstahl. Die Kühltürme des Kernkraftwerks sieht Sabine Lutz von hier nicht, wohl aber auf ihren Reitausflügen im Landkreis. "Bei Obbach stehen die Türme so schön im Taleinschnitt", erzählt sie. "Das ist ja irgendwo auch ein Baudenkmal. Es klingt komisch, aber man entwickelt dazu ein gewisses Heimatgefühl. Für mich hatten die Türme nie etwas Bedrohliches. Ich habe den Mitarbeitern im Kernkraftwerk immer vertraut."

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Doch nun bricht eine neue Zeit an, und Pragmatikerin Lutz ist nicht der Typ für große Grübeleien. Der Wandel hat ohnehin schon viel früher begonnen. Seit knapp vier Jahren gibt es schon keine Gewerbesteuer mehr, Eon verrechnet die Gewinne seither konzernintern. Zudem musste die Gemeinde 2012 Steuervorauszahlungen von Eon zurückerstatten, insgesamt zehn Millionen Euro. Deshalb hat der Gemeinderat Gewerbe- und Grundsteuer erhöht sowie die Kindergartenbeiträge und die Abwassergebühren. Der Widerstand in der Bevölkerung sei erstaunlich gering ausgefallen, sagt Lutz: "Das ist bei den Bürgern angekommen, dass wir jetzt mehr sparen müssen." Auch Sabine Lutz ist eine sparsame Frau. Ihr Amtszimmer ist spärlich erhellt. "Wir brauchen doch keine Festbeleuchtung, oder?", fragt sie. Und auf ihrem Auto klebt kein "Atomkraft, nein danke"-Aufkleber, sondern einer mit der Aufschrift: "Energiesparen, ja bitte."

Ums Haushalten geht es jetzt, aber auch um Alternativen in der Gemeinde: Ein vor 15 Jahren ausgewiesenes Gewerbegebiet zieht inzwischen Mittelständler an. Und auch Häuslebauer lassen sich von der nahen atomaren Großbaustelle kaum abschrecken, für ein geplantes Baugebiet gebe es schon mehr als 100 Anfragen.

An der Lampe über dem Schreibtisch der Bürgermeisterin hängt ein selbstgemalter Regenbogen, ein Gruß der Kinder aus der Kita "Am Fröschloch". Bevor Lutz ihr Büro verlässt, tippt sie den Regenbogen kurz an, lässt ihn ein wenig schaukeln und sagt: "Unser Selbstbewusstsein hängt nicht nur vom Kernkraftwerk ab."

Fritz und Annette Roßteuscher, Widerstand aus dem Nachbarort

Widerständler AKW-Fritz Roßteuscher und seine Tochter Annette Atomkraftwerk Grafenrheinfeld Foto: privat (Foto: N/A)

"Wir haben Recht auf eine Zukunft ohne Radioaktivität" - Annette Roßteuscher weiß heute noch genau, was sie 1975 mit Filzstift auf ihr Plakat geschrieben hat. In diesem Jahr ist sie elf Jahre alt und besucht ihre erste Demonstration: gegen den Bau des Atomkraftwerks Grafenrheinfeld. Ihr Vater Fritz Roßteuscher, damals Bürgermeister der Nachbargemeinde Schwebheim, hat die Demo mit organisiert. Der heute 84-Jährige widmete mehr als die Hälfte seines Lebens dem Kampf gegen das Kraftwerk. Auf der Demo mit 10 000 Teilnehmern in der Schweinfurter Innenstadt kommt Roßteuscher und seinem Schwager der spontane Entschluss, nach der Kundgebung mit den Kindern zur Kraftwerks-Baustelle nach Grafenrheinfeld zu fahren. Sie wollen ihre Protestplakate dort in die Erde stecken, einfach als kleiner Gruß an die Bauherren.

Annette Roßteuscher sollte diesen Ausflug nie mehr vergessen. Eine Hundertschaft Polizisten habe den Bauzaun gesichert, offensichtlich in Erwartung tausender Demonstranten, erzählt sie. Doch stattdessen seien nur zwei Erwachsene und vier Kinder übers Feld gestapft. Plötzlich sei ein Polizeihubschrauber im Tiefflug über das Grüppchen hinweggedonnert. "Er ist so nah gekommen, ich konnte das Gesicht des Piloten sehen", sagt sie. "Die müssen doch gesehen haben, dass Kinder dabei waren. Wir sind gerannt wie die Hasen. Mein Gott, ich hatte so eine Angst." Fritz Roßteuscher nennt den Einsatz heute noch "martialisch". "Der Staat wollte uns zeigen, dass wir absolut nichts ausrichten können", sagt er. Roßteuscher hält dennoch jahrelang Mahnwachen an einem Steinkreuz in der Nähe des Kraftwerks ab, häufig unter Beobachtung der Polizei.

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Im Schatten der Kühltürme wird Annette Roßteuscher groß. In ihrem Klassenzimmer hängt sie Greenpeace-Plakate auf und den offiziellen Evakuierungsplan für den Fall eines Gaus. Ihre Lehrer tolerieren das. Später wird sie Leiterin der Schwebheimer Gemeindebibliothek, und selbstverständlich schafft sie etliche Exemplare von Gudrun Pausewangs "Die Wolke" an, dem Anti-Atom-Buch für Jugendliche. Auch auf Demos gehen die Roßteuschers weiter, aber mit der Zeit lässt der Enthusiasmus nach. "Es hat ja auch nie was gebracht", sagt die Tochter. Die Nachricht von der Abschaltung löst deshalb keine Jubelstürme aus. "Klar, das freut uns schon. Aber das Grundproblem ist ja nicht gelöst", sagt der Vater. 40 Jahre Kampf haben müde gemacht. Das Buch von Gudrun Pausewang wird auch nicht mehr so oft ausgeliehen.

Robert Endres, Eisverkäufer im innerörtlichen Widerstand

Speiseeis gibt es in Grafenrheinfeld schon länger als spaltfähiges Material. Die Eisrosa verkaufte einst ihr selbst gemachtes Erdbeereis unter einem gepunkteten Sonnenschirm am Straßenrand. Seit 1979 führt ihr Enkel Robert Endres eine Eisdiele am Marktplatz. Endres ist einer der ganz wenigen Grafenrheinfelder, der das Kernkraftwerk schon früh skeptisch sah. Mit seinem mobilen Eiswagen unterstützte er regelmäßig die Veranstaltungen der Ba-Bi, der Anti-Atomkraft-Bürgerbewegung im nahen Schweinfurt. Erst kürzlich beim Abschaltfest am 31. Mai spendete er Erdbeer, Schoko und Vanille für die moralische Unterstützung der Atomkraftgegner. Aber so richtig freuen kann er sich über den nun anstehenden Abschalttag nicht.

Aus den Kühltürmen werden zwar bald keine Wolken mehr aufsteigen, sonst aber ändere sich wenig. Vor allem über die immer noch ungelöste Atommüllfrage kann sich Endres aufregen. "Stellen sie sich vor: Ich produziere hier mein Eis, und stelle den Abfall in den Hinterhof", sagt er, über den Tresen gelehnt. "Und am nächsten Tag kommt neuer Abfall dazu. Und neuer Abfall. Irgendwann steigt mir doch das Landratsamt aufs Dach, dass ich meinen Abfall entsorgen muss. Und im Kernkraftwerk darf einfach alles stehenbleiben."

22 Castoren mit verbrauchten Brennelementen stehen derzeit im Zwischenlager auf dem Gelände des Atomkraftwerks, für insgesamt 88 Castoren ist dort Platz. Die Betriebsgenehmigung läuft bis Februar 2046. Wenn Endres das Wort vom "Zwischenlager" hört, lacht er bitter: "Sagen sie doch lieber gleich Endlager. Ich glaube nicht an das Zwischenlager."

Gudrun Pausewang, Schriftstellerin

Pausewang kritisiert die heutige Generation für ihre Gleichgültigkeit. (Foto: dpa)

Zum Abschaltfest ist Gudrun Pausewang aus ihrer Heimat in Hessen nach Schweinfurt aufgebrochen, von einem "großen Moment" aber will sie nicht sprechen. Höchstens von einem Etappenziel. Pausewang ist die Frau, die das AKW Grafenrheinfeld zu etwas Besonderem gemacht hat. Ihr Buch "Die Wolke" beschreibt, wie es wäre, wenn der Gau tatsächlich eintreten würde. Betroffen ist der Meiler in Grafenrheinfeld, ihr Jugendroman beginnt mit dem Satz: "An diesem Freitagmorgen wehte eine starke Brise." Es wird dann heftig, erzählt wird die Geschichte der 14-jährigen Janna-Berta, die flüchtet vor der atomaren Wolke. Beschönigt wird nichts in diesem Buch, was ein Grund sein dürfte, dass es sich ins kollektive Gedächtnis einer Generation eingebrannt hat wie wenig andere.

Es gab manche, die Pausewang kritisiert haben für die Härte ihrer Darstellung, für die grausamen Details. Sie aber würde es genauso wieder schreiben. In Jugendbüchern, sagt die 87-Jährige, "muss die Welt nicht heil sein". Denn sie ist eben nicht heil. Spätestens seit Tschernobyl habe man das beim Namen nennen müssen. Also beschrieb sie, wie das wäre, wenn das Chaos ausbricht. Wie Menschen ihr Haar verlieren und sterben. Das Buch sollte kein "Mutmacherbuch" sein, sondern eine Warnung, sagt sie. Irgendwann konnte man sich ihren Roman sogar in der Gemeindebibliothek von Grafenrheinfeld ausleihen. Er wird dort immer noch stehen und zu lesen sein, wenn das AKW längst abgeschaltet ist. Ein kleiner Triumph für die Autorin, natürlich. Das Ziel aber sei noch lang nicht erreicht, sagt sie: "Erst dann, wenn es auf der Welt keine Atomindustrie mehr gibt."

© SZ vom 20.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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