Vanessas Mörder vor Gericht:"Erhebliche Risikofaktoren"

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Wird der Mörder der zwölfjährigen Vanessa freigelassen oder kommt er in Sicherungsverwahrung? Ehe ein Gericht in Augsburg entscheidet, streiten Gutachter über die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls.

Hans Holzhaider

Die Staatsanwaltschaft hatte schon Vorsorge getroffen für den Fall, dass Michael W., der vor zehn Jahren die zwölfjährige Vanessa getötet hat, unverhofft auf freien Fuß kommen könnte. Der 29-Jährige, der nach Verbüßung seiner zehnjährigen Haftstrafe derzeit noch aufgrund eines vorläufigen Unterbringungsbefehls festgehalten wird, kam am Mittwoch mit einer elektronischen Fußfessel in den Gerichtssaal - ein kleines, am Unterschenkel befestigtes Gerät, das etwa wie ein Mobiltelefon aussieht und mit dessen Hilfe die Behörden jederzeit den Aufenthaltsort des Trägers feststellen können.

Der Mörder trug eine Totenkopfmaske - wie im Horrorfilm. (Foto: DPA)

"Wir wussten ja nicht, wie der heutige Termin verlaufen wird", sagte Staatsanwalt Hans-Peter Dischinger. Er muss wohl geahnt haben, was Verteidiger Adam Ahmed beantragen würde: Der Unterbringungsbefehl gegen seinen Mandanten solle aufgehoben werden, was zur Folge gehabt hätte, dass Michael W. unverzüglich hätte freigelassen werden müssen. Der Jugendkammer des Landgerichts Augsburg ging das allerdings zu schnell. Der Vorsitzende Richter Lenart Hoesch wies den Antrag zurück; Michael W. bleibt vorerst in Haft.

Die Anhörung der Sachverständigen sei noch nicht beendet, begründete Hoesch. Eine Entscheidung des Gerichts über den Antrag der Staatsanwaltschaft, gegen Michael W. die nachträgliche Sicherungsverwahrung zu verhängen, könne erst "nach Ausschöpfung aller Prognosemöglichkeiten" getroffen werden.

Wofür sich das Gericht nach bisheriger Terminplanung schon in der nächsten Woche entscheiden wird - Entlassung oder Sicherungsverwahrung - wagt im Augenblick noch niemand vorherzusagen. Ein Gutachter, der Psychologe und Kriminologe Helmut Kury, hatte sich dafür ausgesprochen, Michael W. unter strengen Auflagen zu entlassen, ein anderer, der Würzburger Psychiater Pantelis Adorf, hält W. dagegen weiterhin für so gefährlich, dass er unbedingt in Sicherungsverwahrung gehalten werden müsse.

Adorfs Gutachten freilich war angesichts seiner verblüffenden Knappheit - es umfasst in seiner schriftlichen Fassung nur 25 Seiten - von allen Prozessbeteiligten für wissenschaftlich unzureichend befunden worden. Daraufhin hatte Staatsanwalt Dischinger, wie er in einem Aktenvermerk festhielt, den Sachverständigen außerhalb der Hauptverhandlung angesprochen und ihm nahegelegt, sein Gutachten in mehreren, genau bezeichneten Punkten nachzubessern.

"Ein einzigartiger Vorgang", rügte Verteidiger Ahmed, für den es keine rechtliche Grundlage gebe. Aufträge an einen Gutachter seien ausschließlich Sache des Gerichts, nicht der Staatsanwaltschaft. Die inzwischen schriftlich eingegangen Ergänzungen des Sachverständigen werde er eingehend unter die Lupe nehmen und jeden Satz daraufhin überprüfen, ob er womöglich abgeschrieben sei, kündigte Ahmed an. Über seinen Antrag, die Vergütung für den Gutachter "auf null Euro" festzusetzen, will das Gericht erst später entscheiden.

Nach diesem Vorgeplänkel und den damit verbundenen längeren Beratungspausen hörte das Gericht dann am Nachmittag den dritten Sachverständigen Ralph-Michael Schulte. Schulte musste - ebenso wie sein Kollege Adorf - sein Gutachten nach Aktenlage erstellen, weil Michael W. nicht mit ihm sprechen wollte. Schulte kommt zu dem Ergebnis, dass W. unter einer "kombinierten Persönlichkeitsstörung" leide, die so ausgeprägt sei, dass sie Krankheitswert habe.

Bei einer so tiefgehenden Störung bedürfe es eines langen Zeitraums, um das nötige Vertrauen zwischen Patient und Therapeut herzustellen, sagte Schulte: "Es dauert, bis man an den inneren Schweinehund herankommt." Es sei deshalb ein "Kunstfehler" gewesen, dass man in der Justizvollzugsanstalt Erlangen die Therapie für Michael W. abrupt abgebrochen habe, nachdem die Staatsanwaltschaft den Antrag auf nachträgliche Sicherungsverwahrung gestellt hatte. "Das ist kontraindiziert", sagte Schulte, "das ist, wie wenn der Chirurg während einer Operation plötzlich die Instrumente weglegt." Trotzdem habe die Therapie bei Michael W. sicherlich zu einer Besserung geführt, auch der Schulabschluss und die Berufsausbildung während der Haftzeit seien günstige Voraussetzungen.

Andererseits gebe es auch weiterhin erhebliche Risikofaktoren - die fehlende Aufarbeitung des Tatmotivs und nach wie vor bestehende Gewaltfantasien, fehlende soziale Kontakte und vor allem die mangelhafte Vorbereitung auf das Leben in Freiheit - Michael W. hatte bisher keinerlei Haftlockerungen. "Er käme aus der totalen Institution direkt in die freie Wildbahn", sagte Schulte, und müsse damit die meiste Zeit alleine klarkommen. Insgesamt, so der Sachverständige, sehe er die Wahrscheinlichkeit für weitere schwere Straftaten bei über 50 Prozent. Genauer könne er sich aber nicht festlegen.

© SZ vom 12.07.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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