Schulprojekt:"Baba, meine Freundin heißt Anna"

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Auch wenn ihr Anliegen ernst ist, lachen Mehmet, Cengizhan, Ali und Sefa (von links) viel, vor allem, wenn sie neue Theaterstücke einstudieren. (Foto: Johannes Simon)

Jungfräulichkeit, Ehrenkodex und Gewalt - Jugendliche, deren Eltern aus patriarchalen Kulturen stammen, lernen in einem Schulprojekt, über Tradition und Moderne zu diskutieren. Die "Heroes" helfen ihnen dabei.

Von Sarah Ehrmann

Auf Cengizhans Schulter sitzen ein Engel und ein Teufel als Einflüsterer. Das heißt, eigentlich stehen sie hinter ihm und tragen einen Dreitagebart statt weißbefederten Flügeln und Hörnchen, doch das tut nichts zur Sache. "Du musst deine Schwester nicht suchen, sie braucht ihre Freiheit", wispert Karim, der Engel.

"Los, geh schon", zischt Teufel Muhterem. "Ihr könnte etwas zustoßen - und über ihre Freundinnen habe ich Schlimmes gehört." Laut Drehbuch müsste Cengizhan jetzt sagen "Ich gehe sie suchen." Doch die Szene in der ehemaligen Ballonfabrik in Augsburg-Oberhausen friert ein. Cengizhan fragt das Publikum um Rat. Noch mimen seine Kumpels die Zuschauer - beim nächsten Mal schon werden dort Schüler sitzen, Jungen und Mädchen, von denen sich einige vielleicht nie Gedanken über Wörter wie "Ehre" oder "patriarchalische Gewalt" gemacht haben, wohingegen andere deren Tragweite möglicherweise täglich in ihrer Familie erfahren.

Cengizhan und Karim und fünf weitere Jungs sind Augsburgs erste "Heroes". Neun Monate lang haben sie sich ausbilden lassen in dem Projekt von Brücke e.V., um sich für Gleichberechtigung und gegen Unterdrückung im Namen der Ehre stark zu machen. Sie haben Filme angeschaut, über Themen wie Homosexualität gesprochen und mit "Wildwasser München", einer Initiative gegen sexuellen Missbrauch, über Jungfräulichkeit, Sexualität und sexuelle Gewalt diskutiert. Weil es für solche Themen Vertrauen braucht, haben die Jungen jede Woche zwei bis drei Stunden geredet, Basketball und Theater gespielt und sind für eine Woche in die Türkei gereist. "Wir sind keine Eingreiftruppe gegen Zwangsheirat, wir setzen früher an, bei Ungerechtigkeiten im Namen der Ehre", erklärt Gruppenleiter Steve Malki.

Nun ist der erste Teil ihrer Ausbildung abgeschlossen. Von jetzt an werden die 16- bis 19-jährigen Jungen als Multiplikatoren in Workshops in Augsburger Schulen mit anderen Jugendlichen über Rollenbilder, Gleichberechtigung und daraus entstehende Probleme diskutieren und Lösungsansätze entwickeln. Im Vordergrund stehen Jugendliche, die aus sogenannten Ehrenkulturen stammen. Um Religion soll es dabei nicht gehen, sagt "Heroes"-Gruppenleiter Steve Malki. "Die archaische, patriarchalische Ehrenkultur ist Teil einer Rückbesinnung auf eine vermeintliche Tradition des Herkunftslandes", sagt der 33-Jährige. In Deutschland kommen viele Zuwanderer aus dem jesidischen, kurdischen oder türkischen Kulturkreis, aber auch aus der Ukraine und Usbekistan. In England hingegen sind es vornehmlich pakistanische und indische Familien, die in den Traditionen einer Ehrenkultur leben - mit allen Konsequenzen für die Töchter, die in vielen Fällen nach den Wünschen der Familie statt ihren eigenen handeln müssen.

Augsburger hatte im Jahr 2011 einen Ausländeranteil von 17,4 Prozent, den höchsten in Bayern nach der Landeshauptstadt. In den Stadtteilgesprächen wurde der Anteil von Bürgern "mit Zuwanderungsgeschichte" auf mindestens 50 Prozent geschätzt. Alle sieben "Heroes" - Cengizhan, Karim, Andrey, Can, Ali, Sefa und Mehmet - sowie ihre Gruppenleiter Muhterem Yilmaz und Steve Malki haben Migrationshintergrund. Das ist gewollt, denn hinter "Heroes" steht das Konzept der Peer-Education - dass Jugendliche von Gleichaltrigen lernen, die einen ähnlichen Erfahrungshorizont und den gleichen kulturellen Hintergrund einer Ehrenkultur besitzen. Konflikte entstehen darin häufig aus dem Mann-Frau-Gefälle der Ungleichberechtigung und den Ansprüchen der Familie an die Töchter, die als Träger der Familienehre keusch und gehorsam sein müssen. Das kann bedeuten, dass sie sich um den Haushalt kümmern müssen oder Freunde nicht ohne den Bruder treffen dürfen.

Doch die Folgen dieser Ungleichberechtigung wirken sich auch negativ auf die Söhne aus, und hier setzt "Heroes" an: Neben dem Rollenspiel über den Vater, der seinen Sohn als Beschützer der Tochter in die Pflicht nimmt, gibt es auch das Spiel "deutsche Freundin": Der Sohn sagt seinem Vater, er habe ein Mädchen kennengelernt, "aber Baba, sie heißt Anna." In einer ersten Version rastet der Vater aus und kündigt an, dass die Großmutter eine Frau in der Türkei suchen werde. In einer zweiten Version zeigt er Verständnis für seinen Sohn, der in zwei Kulturen aufwächst.

Die sieben Heroes haben Glück - sie kennen solche Probleme eher aus dem Freundeskreis als aus ihren eigenen Familien. "Meine Eltern sind liberal, meine Mutter ist nicht unterdrückt, meine Schwestern arbeiten", erzählt der 18-jährige Sefa. Und doch hat auch er sich durch das Projekt verändert, wie Gruppenleiter Malki berichtet: "Sefas Schwester hat uns erzählt, dass es jetzt zuhause ein Riesenunterschied ist." Sefa helfe im Haushalt, spüle auch mal ab.

In Bayern läuft das Projekt, dessen Idee aus Schweden stammt, in Augsburg und München. Projektleiterin Brigitte Schürmann und die beiden Gruppenleiter hatten in Jugendhäusern und Schulen nach "Heroes" gesucht - fündig wurden sie dann im Ethikunterricht an zwei Gymnasien. Das Projekt ist auf drei Jahre angelegt, im Januar soll die nächste Gruppe beginnen. Gruppenleiter Malki träumt von einem schul-, kultur- und geschlechter-übergreifenden Wirkungskreis: "Das Ziel ist, dass jemand kommt, der sagt: ,Ich habe das in meiner Familie erlebt und will jetzt was ändern - ich will ein Held werden."

© SZ vom 27.12.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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