Personalmangel in der Altenpflege:Wenn Vernachlässigung zur Regel wird

Es geht um Leib und Leben hilfsbedürftiger Menschen. Trotzdem herrschen in der Altenpflege oft katastrophale Zustände. Das hat vor allem mit fehlendem Personal zu tun. In vielen Heimen stoßen die Mitarbeiter an ihre physischen und psychischen Grenzen.

Sven Loerzer

Ein Hitzkopf, der unbedacht daherpoltert, ist der Münchner Kreisverwaltungsreferent Wilfried Blume-Beyerle ganz gewiss nicht. Der Jurist formuliert wohl abgewogen und nüchtern, Übertreibungen sind seine Sache schon gar nicht. Vor diesem Hintergrund lässt sich erahnen, welch ungeheure Dramatik in seinem Fazit des letzten Berichts der Münchner Heimaufsicht zur Situation in den Altenpflegeheimen steckt: "Die Pflege ist immer noch in vielen Fällen selbst der Pflegefall." Ohne eine externe Überprüfung hätte eine humane und aktivierende Pflege, bei der die Menschenwürde geachtet werde, oft nicht sichergestellt werden können.

Altersheim

Eine Pflegerin kümmert sich um eine alte Dame - oft fehlt die Zeit für persönliche Kontakte. In einem Altenheim des DRK in Fürstenfeldbruck, das im März eröffnet wurde, konnten Bewohner über zwei Monate lang nicht ausreichend versorgt werden.

(Foto: Tobias Kleinschmidt/dpa)

Gering ist die Anzahl von festgestellter optimaler Versorgung, hoch die Zahl von Fällen gefährlicher Pflege, die Bewohner Risiken aussetzt und sie schädigt, häufig die Routinepflege nach "Schema F", die Gewohnheiten und Bedürfnisse der Bewohner vernachlässigt. "Eine wünschenswerte Versorgung ist noch lange nicht erreicht", fasst Blume-Beyerle die Erkenntnisse seiner Behörde zusammen. "Von einer Entwarnung in der Pflege kann daher noch nicht gesprochen werden."

Dieses Urteil wiegt deshalb besonders schwer, weil Blume-Beyerle, als der Freistaat den Landkreisen und den kreisfreien Städten vor zehn Jahren die Heimaufsicht übertragen hat, die neue Aufgabe des Verbraucherschutzes sehr ernst nahm. Es gehe "um Leib und Leben" von Menschen, die besonders auf Schutz angewiesen sind. Der Kreisverwaltungsreferent baute eine personell wie fachlich gut ausgestattete Heimaufsicht auf, die bundesweit als vorbildlich gilt.

Umstrittenes Benotungssystem auf dem Land

Auf dem Land dagegen wurde die Aufgabe nicht immer als derart wichtig begriffen, zumal dort auch Interessenskonflikte auftreten können, etwa wenn ein Landrat, dem die Heimaufsicht untersteht, auch dem Vorstand eines Heimträgers angehört. Deshalb werden dort auch besonders gern die vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung ermittelten "Pflegenoten" gefeiert, die Blume-Beyerle als nicht aussagekräftig kritisiert.

Die Durchschnittsnote für die bayerischen Heime liegt bei 1,4 und suggeriert, dass alles in Ordnung ist. Selbst die Seniorenpflege Haus Maria-Magdalena in Germering, eines der beiden Häuser im Landkreis Fürstenfeldbruck, das jetzt in der Kritik steht, kommt noch auf die Note 2,4. Beim Seniorenwohnen Buchenau, erst vor wenigen Monaten eröffnet, liegt noch keine Note vor.

In den Noten-Jubel mag Sebastian Groth, als Hauptabteilungsleiter im Münchner Kreisverwaltungsreferat zuständig für Sicherheit und Ordnung und damit auch die Heimaufsicht, nicht einstimmen. Seine Mitarbeiter kontrollieren und beraten die 57 Altenpflegeheime in München mit rund 8500 Plätzen; vier neue werden in den nächsten Monaten dazukommen.

Es gebe vielfältige Probleme in der Pflege, sagt Groth, aber das zentrale Problem sei es, Personal für die Einrichtungen zu gewinnen, gerade in einer Region wie München, wo das Wohnen gemessen am Verdienst in der Pflege sehr teuer ist. Die Schwierigkeiten können neu eröffnete Häuser treffen wie jetzt im Landkreis Fürstenfeldbruck. Auch in München gab es schon "Fehlstarts" - dann, wenn das Einstellen von Personal langsamer vorankommt als die Belegung.

Menschenwürdige Pflege ist unmöglich

Länger bestehende Häuser leiden unter der höheren Personalfluktuation, die ein teurer Standort mit sich bringt. Die wirkt sich wegen der ungünstigen Bedingungen ganz besonders verhängnisvoll aus, wie die städtische Beschwerdestelle für den Altenpflegebereich in ihrem letzten Bericht vermerkt hat: "Die Leistungen der Pflegeversicherung geben einen sehr engen Personalrahmen vor, der an vielen Stellen das Pflegepersonal an die Grenzen ihre physischen und wie psychischen Belastbarkeit führt."

Altenheim in Hannover

Zu wenig Zeit, zu wenig Geld, zu wenig Fachkräfte: Das Personal in vielen Pflegeeinrichtungen ist hoffnungslos überlastet.

(Foto: dpa)

Mit anderen Worten: Selbst wenn alle Stellen besetzt sind, ist das Personal schon stark gefordert. Fallen Mitarbeiter krankheitsbedingt aus, oder ist eine Stelle nicht sofort nachzubesetzen, weil Personal schwer zu finden ist, kann sich die Situation in einem Heim ganz schnell zuspitzen.

Kurzzeite Aushilfen kosten Zeit

Aushilfen, die oft mit Hilfe von Zeitarbeitsfirmen eingesetzt werden, um die Lücken zu schließen, müssen erst eingearbeitet werden, sie kennen die Bewohner nicht. Für das verbliebene Stammpersonal aber bedeute es noch mehr Belastung, neue Kräfte einzuweisen und zu begleiten, betont Groth. Dadurch beschleunigt sich der Niedergang oft weiter, denn so kommt es zu weiterer Personalfluktuation: Gute Pflegekräfte verlassen das Haus. Andererseits sind Heimträger gezwungen, sogar Pflegekräfte zu halten, wenn ihre Leistungen eigentlich zu wünschen übrig lassen, weil sie sich ihr Personal angesichts des leer gefegten Arbeitsmarktes kaum aussuchen können.

Denn kann ein Träger die vorgeschriebene Fachkraftquote von mindestens 50 Prozent nicht einhalten, verhängt die Heimaufsicht in aller Regel einen Aufnahmestopp für neue Bewohner, damit die vorhandenen Mitarbeiter weniger Bewohner zu betreuen haben. Wenn aber Heimplätze monatelang unbelegt bleiben, kostet dies den Träger viel Geld. Ohnehin befinde sich bei den meisten Heimen die Fachkraftquote nur mehr ganz knapp über dem gesetzlichen Mindestmaß. "Das ist zwar in Ordnung, aber wir würden uns wünschen, dass sie deutlich darüberliegt", sagt Groth.

Es wird geschönt, gelogen und verschwiegen

Die Defizite seien alle längst bekannt und würden dennoch immer wieder beschönigt, etwa wenn Politiker oder Vertreter der Kostenträger Heime besuchen, meint der Pflegekritiker Claus Fussek, der seit Jahrzehnten die Missstände thematisiert. Zunehmend erhält er Post von verzweifelten Pflegekräften. Die Soll-Stärke des Personals sei von den Kostenträgern viel zu eng berechnet, "um eine menschenwürdige Pflege zu gewährleisten", haben ihm fünf Altenpflegerinnen geschrieben.

So wissen auch sie sich nicht anders zu helfen, als Leistungen mit Handzeichen abzuzeichnen, obwohl jeder wisse, "dass die dokumentierten Tätigkeiten zu einem großen Teil nur auf dem Papier stattfinden". In keinem Bereich werde "so viel geschönt, gelogen und verschwiegen, wie in der Altenpflege", lautet das Fazit. Es sei schon grotesk, sagt Fussek, dass viele Funktionäre der Pflegebranche zwar immer wieder die schlechten Rahmenbedingungen beklagen, aber gleichzeitig behaupten, gute Pflege zu leisten.

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