Wiener Kongress 1814/15:Verkehrsexplosion vom Ausmaß des Autozeitalters

Landauer des Wiener Hofes 1814/15

Ein Landauer des Wiener Hofes zur Zeit des Wiener Kongresses 1814/15.

(Foto: KHM)

Der Wiener Kongress war nicht nur historisch bedeutend, sondern auch die Geburtsstunde des Verkehrschaos'. Gleichzeitig brachte er einige innovative Verkehrskonzepte hervor, die bis weit hinein ins Autozeitalter überlebten.

Von Hans Kratzer

Die Rösser schnaubten, die Kutscher fluchten und das Volk gaffte. Auf dem Josephsplatz in der Wiener Hofburg herrschte am Nachmittag des 22. Januar 1815 ein Durcheinander. Überall drängten sich Schlitten, Pferde und Menschen, die Teil eines Spektakels waren, das in Wien unvergessen ist. An diesem Wintertag fuhren nämlich die wichtigsten Köpfe Europas mitsamt ihrem Anhang in einer Schlittenpartie nach Schönbrunn hinaus. Es war ein denkwürdiges Vergnügen des Wiener Kongresses, der zu den bedeutendsten Ereignissen der europäischen Geschichte zählt.

"Es ist schwer ein prachtvolleres Spektakel zu sehen", notierte der Delegierte Jean-Gabriel Eynard über diese Ausfahrt. "Die Schlitten waren von einem exzessiven Reichtum, ganz vergoldet, mit grünem, goldgestickten Samt ausgelegt . . . Es wäre unmöglich etwas Schöneres zu sehen, als den Anblick dieser Schlitten."

Neuordnung der Welt

Nachts kehrte die in Pelze eingemummte Gesellschaft im Schein der Fackeln in die Stadt zurück, wobei Tausende Schaulustige die Straßen säumten, unter ihnen auch Grantler und Enttäuschte. Der Kongress hatte neben Inflation, Teuerung und Verknappung von Holz und Kerzen eine kräftige Erhöhung der Erwerbssteuer mit sich gebracht. "Wir müssen Alles von Tag zu Tag theuer zahlen", murrten Zuschauer, als sie die Herrscher in ihren Prachtschlitten vorübergleiten sahen. Gleichwohl gingen die Berichte über diese Prozession mit zwei Kaisern, zwei Königen und unzähligen Fürsten um die ganze Welt.

Vom September 1814 bis zum Juni 1815 hatten sich Monarchen, Politiker und Lobbyisten in der Kaiserstadt Wien versammelt, um die Welt nach dem Sturz Napoleons neu zu ordnen. Bis zu 100 000 Menschen dürften im Gefolge der Mächtigen in die Stadt gekommen sein, die Liste der Kongress-Teilnehmer liest sich wie ein "Who is who" der damaligen Epoche.

Logistische und organisatorische Herausforderung

Der Wiener Kongress setzte aber auch verkehrstechnisch neue Maßstäbe. "Wer glaubt, dass Machos in schnellen Sportwägen Verkehrschaos, Massentourismus und rauschende Feste ein Phänomen unserer Zeit sind, der täuscht sich", sagt Monica Kurzel-Runtscheiner, die Direktorin der Kaiserlichen Wagenburg in Wien, die den Kongress akribisch erforscht hat. "All diese Dinge gab es schon vor 200 Jahren." Ihre Untersuchungen werfen ein neues Licht auf den Verkehr, die Mobilität und die Logistik vor 200 Jahren.

"Man muss sich die Dimension des Kongresses wirklich vor Augen führen", sagt Kurzel-Runtscheiner: "Wien hatte damals 250 000 Einwohner, hatte gerade 20 Jahre Krieg hinter sich und zwei Besatzungen, die Stadt war ausgezehrt - und dann kommen mit einem Schlag 100 000 Menschen, die verpflegt, unterhalten und vor allem transportiert werden mussten." Und zwar nicht nur für wenige Wochen - der Kongress zog sich neun Monate lang hin.

Lösungen für das unlösbare Transportproblem

Schon das Transportproblem schien unlösbar zu sein. Die hohen Gäste waren mit Reisekutschen gekommen, mit denen sie sich in der engen Innenstadt unmöglich fortbewegen konnten. Der Wiener Hof richtete deshalb vor den Stadttoren für 400 schwere Gefährte eine Remise ein, es war wohl der Prototyp eines modernen Parkhauses. Damit sie in der Stadt mobil waren, wurde für die Gäste in nur vier Wochen ein Fuhrpark angelegt. 700 zusätzliche Pferde wurden im ausgezehrten Land rekrutiert.

Dazu wurden fast 200 neue Fahrzeuge angefertigt, darunter waren zwei- und viersitzige geschlossene Stadtwagen, offene und geschlossene Landauer, Kaleschen mit offenem Verdeck, die man bei Schönwetter verwendete, und sportliche zweisitzige "Pirutschen" für Vergnügungsfahrten in den Parks. Erstmals wurden diese Fahrzeuge einheitlich gestaltet. Der Wiener Hof erfand damit die "Corporate Identity" für fürstliche Fuhrparks, die bald überall in Europa kopiert wurde. Nun wusste jeder, dass die Fahrgäste dieser dunkelgrünen Kutschen Kongressteilnehmer waren und Vorfahrt genossen.

Verkehrschaos trotz einiger Innovationen

Die Kutschen wurden den Gästen als Leihwagen zur Verfügung gestellt, die rund um die Uhr mit eigens gedruckten "Bestellungs-Zetteln" angefordert werden konnten. Das Leihkutschensystem war eine der auffälligsten Neuerungen jener Zeit. Fast alle Augenzeugen zeigten sich von den Hofequipagen beeindruckt, die mit ihrer großen Zahl und ihrem Dekor das Straßenbild schlagartig veränderten.

Für die Kutscher galten strikte Regeln: Sie mussten einen angeforderten Wagen binnen 15 Minuten zum Einsatzort bringen. Nach Gebrauch kehrte die Kutsche in die jeweilige Remise zurück, wo Teams von 20 Männern Tag und Nacht im Einsatz waren, um die Wagen auf Schäden zu untersuchen, zu reinigen und ihre Achsen frisch zu schmieren.

Wien erlebte damals eine Verkehrsexplosion vom Ausmaß des Automobilzeitalters. "Das "Gewühle und Wogen der Menschen, das Gedränge der Equipagen wird mit jedem Tage lebhafter", klagte der Beamte Matthias Perth. Die Ankunft des Ehepaars Eynard wurde von "tausenden und abertausenden Behinderungen durch Wägen" erheblich verzögert, wobei sie aufgrund des starken Verkehrs in den engen Gassen oft gezwungen waren, lange zu warten, "zu wenden und wieder zu wenden".

"Transportlogistische Leistung erster Güte"

Viele Fahrzeuge jener Tage haben sich in den Depots der Wiener Wagenburg in Schloss Schönbrunn erhalten und werden nun erstmals nach 200 Jahren in einer Ausstellung präsentiert. "Der Wiener Kongress war eine transportlogistische Leistung erster Güte", sagt die Kuratorin Monica Kurzel-Runtscheiner. Dass der Kongress tanzte, weiß jeder. Die Wagenburg zeigt, was die zentrale Voraussetzung dafür war: Der Kongress musste fahren.

Nicht zuletzt hat er den Kongress-Tourismus begründet. "Erstmals war das Rahmenprogramm fast wichtiger als die Tagungen", sagt Kurzel-Runtscheiner. Es war üblich, im Laufe eines Abends mehrere Feste und Veranstaltungen zu besuchen. Die weiten Wege waren nur mit der Kutsche zu bewältigen, wobei es oft zu Staus kam. Der Wiener Kongress war eben auch die Geburtsstunde des Verkehrschaos. Eine Gräfin berichtete, dass sie zum großen Ball bei Fürst Metternich viel zu spät kam, weil die Zufahrtsstraße "durch die vielen Wagen dermaßen versperrt" war, dass sie für eine Strecke, die normal in einer Viertelstunde zu bewältigen war, volle zwei Stunden gebraucht hatte.

Die Neigung zum rücksichtslosen Fahren wuchs

Die Fürstin von Fürstenberg wiederum klagte über "den unmenschlichen Lerm von hundert Wägen die unaufhörlich seit 5 Uhr früh" unter ihren Fenstern vorbeirollten. "Das schnelle Fahren und Reiten nimmt hier neuerdings überhand", notierte ein Polizeidirektor im November 1814.

Tatsächlich ging mit der Verkehrsdichte auch die Neigung zum rücksichtslosen Fahren einher. Der englische Arzt Richard Bright bemängelte, dass die Wiener Gehsteige zu niedrig wären, um die Sicherheit der Fußgänger zu gewährleisten. Den Kutschern wäre es ein Leichtes, über den Randstein zu fahren, was sie auch häufig täten, da sie lieber über den Fuß eines Passanten führen, als das Rad eines entgegenkommenden Fahrzeugs zu streifen.

Die gewaltige Summe von 1,5 Millionen Gulden, die der Wiener Hof in die Verkehrstechnik investiert hatte, sollten sich dennoch rentieren. Nicht nur, dass der Fuhrpark für die Zukunft gerüstet war, auch in der Logistik war Wegweisendes geschehen. Das Oberststallmeisteramt hatte es geschafft, aus widrigsten Anfängen heraus neun Hofhaltungen und Tausende Gäste zu deren Zufriedenheit zu bedienen. Insgesamt waren 40 000 bestellte Ausfahrten erledigt worden, dazu unzählige Fahrten, die nicht reserviert waren. Im Schnitt war jeder Wagen und jedes Pferd vier Mal täglich im Einsatz gewesen. Die Ausstellung in der Kaiserlichen Wagenburg lässt sowohl diese bravouröse Transportlogistik als auch die generelle Faszination dieses Weltereignisses erahnen wie noch nie zuvor.

Der Kongress fährt. Leihwagen, Lustfahrten und Luxus-Outfits am Wiener Kongress 1814/15, Kaiserliche Wagenburg, Schloss Schönbrunn Wien, bis 9. Juni, täglich 10-16 Uhr.

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