Visio.M von der TU München:Airbag in der Stoßstange

Elektroauto Visio.M der TU München

Dank neuer Technologien soll der Visio.M so sicher wie deutlich größere Autos sein.

(Foto: REUTERS)

Kleine und leichte Elektroautos sind umweltfreundlich, aber es fehlt ihnen an Knautschzonen. Mit neuen Ideen wollen die Entwickler des Visio.M die Sicherheitsmängel ausgleichen.

Von Andreas Wenleder

Klein gegen Groß: Bei schweren Autounfällen zeigt sich, wie ungerecht Naturgesetze sein können. Verdreht und zusammengestaucht lehnt der Kleinwagen an der Leitplanke. Gegenüber steht der große Geländewagen noch felsenfest auf seiner Spur. Konstrukteure müssen deshalb Ideen entwickeln, um kleinere Fahrzeuge sicherer zu machen. Das gilt besonders für die kommende Generation von Elektroautos.

Die E-Mobile sollen besonders leicht und windschnittig sein. Jedes Kilogramm zu viel kostet Reichweite - diese ist durch die Kapazität der Akkus derzeit noch limitiert. Viele Hersteller setzten deshalb auf Leichtbau.

In dieser Woche hat die Technische Universität München ihr zukunftsweisendes Konzeptauto namens Visio.M vorgestellt. Es ist ein elektrisch angetriebener Kleinstwagen. Zwei Sitze, nur dreieinhalb Meter lang. Mit Akku wiegt das Gefährt nur etwas mehr als 500 Kilogramm. Trotzdem soll das Auto deutlich sicherer sein als ein herkömmlicher Kleinwagen. Seit 2012 sind Unternehmen wie BMW, Daimler und diverse Automobilzulieferer an dem TU-Projekt beteiligt. Auch der Bund hat die Entwicklung des Prototypen mit rund sieben Millionen Euro gefördert.

Airbags vergrößern die Knautschzone

Die klassische Knautschzone eines großen Geländewagens fehlt einem City-Flitzer wie dem Visio.M. Technische Lösungen müssen das ausgleichen. Um überleben zu können, brauchen Fahrer und Beifahrer bei einem schweren Zusammenprall jeden Zentimeter Raum.

Die Entwickler des Visio.M setzen dazu neuartige Airbags ein, die nicht den Fahrer auffangen, sondern die Karosserie vergrößern. Die Karosserie-Airbags verstecken sich in den Stoßstangen des Autos. Kommt es zu einem Crash, blasen sie sich blitzschnell zu harten Stoßdämpfern auf.

Die Luftkissen erinnern an Feuerwehrschläuche. Innerhalb von Millisekunden füllen sie sich bei einem Aufprall mit Gas. Noch bevor die Insassen in Gefahr geraten, kann ein Druck von bis zu 30 Bar aufgebaut werden. "Bei 30 Bar kann man einen Lkw auf den Schlauch stellen", sagt Johann Unger, dessen Firma Autoliv die Stoßstangen-Airbags entwickelt hat. Zwar können die Schläuche nur rund fünf Prozent der Aufprallenergie abfedern. Sie schützen Fahrer und Beifahrer aber auch dadurch, dass sie einige Zentimeter zusätzliche Knautschzone schaffen. Bei Kleinwagen von der Größe des Visio.M kann das überlebenswichtig sein.

Die Airbags lösen aus, bevor der Unfall passiert

Elektroauto Visio.M der TU München

Die Sitze des Visio.M sollen sich im Falle eines Seitenaufpralls um bis zu zehn Zentimeter verschieben lassen.

(Foto: REUTERS)

Das Konzept der Karosserie-Airbags funktioniert nur, wenn ein Aufprall rechtzeitig - am besten schon vor dem Crash - bemerkt wird. Die Entwickler des Sicherheitssystems setzten deshalb Radarsensoren und winzige Kameras ein, welche die Umgebung des Fahrzeugs überwachen. Rund um das Auto werden andere Fahrzeuge, Fußgänger und Hindernisse automatisch erfasst. Die Sensoren messen die Geschwindigkeit und Größe der Objekte. Aus den Daten berechnet ein Algorithmus dann die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls.

Ist ein Aufprall unvermeidbar, werden die Schutzsysteme aktiviert. Droht dem Auto mehr als ein leichter Wildschaden oder eine verkratzte Stoßstange, lösen die Airbags noch vor dem Aufprall aus. "500 Millisekunden vor einem Aufprall wissen wir, dass ein Crash unvermeidbar ist. 250 Millisekunden vor dem Aufprall lösen dann die Airbags aus. In 30 bis 40 Millisekunden sind sie gefüllt", sagt Rainer Justen von Daimler, der die Entwicklung des Sicherheitskonzepts geleitet hat.

Verschiebbare Sitze für mehr Sicherheit

Auch in den Türen können derartige Airbags eingebaut werden. Ein seitlicher Aufprall kann gefährlicher sein als ein Frontalzusammenstoß. Die Insassen werden nur von der leichten Tür des Autos geschützt. Um mehr Raum zum Überleben zu schaffen, kann der Visio.M seine Sitze verschieben. Erkennen Kameras und Radarsensoren einen unvermeidbaren Crash von der Seite, zündet eine Gaskartusche unter den Sitzen. Das Gas strömt in eine Art künstlichen Muskel. Dieser bläht sich auf, verkürzt sich und zieht den kompletten Sitz samt Fahrer ruckartig zur Seite - zehn Zentimeter weiter weg vom Aufprall.

Das ist nicht viel, aber im Ernstfall können das entscheidende Entfernungen sein. "Es ist auch nicht nur der Platz, wir beschleunigen den Insassen damit auch", sagt Justen. Die relative Geschwindigkeit zum aufprallenden Objekt nimmt dadurch ab. Der Aufprall kann nochmals ein wenig abgefedert werden.

Kohlefaserverstärkter Kunststoff sorgt für Stabilität

Die Ingenieure haben neben der fehlenden Knautschzone auch die Karosserie selbst verbessert. Eine Wanne aus kohlefaserverstärktem Kunststoff und Aluminium sorgt für ein stabiles Cockpit. Sogenannte Sandwichmaterialien mindern den Druck eines Aufpralls zusätzlich.

Ob diese sicherheitstechnischen Ideen für Serienfahrzeuge infrage kommen, wird sich erst in einigen Jahren zeigen. Gegen die Notfall-Verschiebung der Sitze spricht in den meisten Fahrzeugmodellen von heute die Mittelkonsole. Daimler-Ingenieur Justen will die Ideen in seinem Unternehmen dennoch weiter vorstellen. Von den zusätzlichen Zentimetern könnten schließlich auch benzinbetriebene Automobile profitieren.

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