Vespa ET 4:Ein Jahr, das 340 Tage dauerte

Mit der richtigen Ausstattung ist selbst bei unserer Witterung fast immer "Roller-Wetter"

(SZ vom 01.04.1998) Wie beliebt Roller sind, dokumentieren die seit Jahren stetig steigenden Verkaufszahlen. Doch es stellt sich die Frage: Wie nützlich ist ein solches Gefährt über das ganze Jahr hinweg gesehen? Prüfungsobjekt war eine 125er Vespa ET 4 - der Verkaufshit des letzten Jahres. In den 365 Tagen zwischen März '97 und März '98 kamen nahezu 7 000 Kilometer zusammen - und das nicht nur zur Sommerszeit. Das Fahrtenbuch verzeichnet nämlich nur 25 Tage, an denen das Wetter so unwirtlich oder die Straßenverhältnisse so gefährlich waren, daß eine Rollerfahrt unverantwortlich gewesen wäre. Mit der richtigen Ausstattung kann ein moderner Motorroller ein Nahezu-Ganzjahresfahrzeug darstellen - zumindest in gemäßigten großstädtischen Klimazonen wie rund um München, Frankfurt, Hannover oder Köln.

Zuerst zum Fahrzeug selbst: Die Vespa ET 4, als Nachfolgerin der legendären Vespa im September 1996 vorgestellt und in der Werbung als Timesurfer bezeichnet, besitzt einen luftgekühlten, 125 Kubikzentimeter großen Einzylinder-Viertaktmotor. Das Triebwerk leistet 8 kW (11 PS) und beschleunigt die ET 4 auf ein Spitzentempo von etwa 90 km/h. Weitere wichtige Eckdaten: Getriebeautomatik und Elektrostarter (plus Kickstarter). Eine unkomplizierte Bedienung, wie bei allen modernen Rollern selbstverständlich, ist demnach auch bei der Vespa garantiert.

Soviel zur Theorie, nun zur Praxis: Grundsätzlich erfüllt die neue Vespa die Erwartungen an einen zeitgemäßen Roller. Das Helmfach unter dem Sitz ist geräumig, der Instrumentenbereich aufgeräumt und die Bedienungshebel sind griffgünstig angeordnet. Der Motor sprang stets ohne Kickstart-Hilfe an, war jedoch war die Laufkultur in der Warmlaufphase verbesserungswürdig. Jüngere Fahrzeuge besitzen einen modifizierten Vergaser, der dieses Problem lösen soll. Das ausgezeichnete Halogenlicht macht Nachtfahrten gut erträglich.

Eine Wespe ohne Heimtücke

Die Fahreigenschaften sind, gemessen an der geringen Radgröße von nur zehn Zoll, sehr ordentlich; die Heimtücke alter Vespas ist der jungen Wespe fremd. Auch die Bremsen - vorne gibt es eine Scheibenbremse - arbeiten einwandfrei. Negativ auf das Fahrverhalten wirkten sich allerdings die in Thailand hergestellten Reifen mit dem Original-Vespa-Schriftzug aus: Auf nasser Straße ließ ihre Haftung in Kurven und beim Bremsen zu wünschen übrig. Die Umrüstung auf Pirelli-Pneus beseitigte dieses gefährliche Manko jedoch rasch.

Absolut unproblematisch ist der Vespa-Einsatz in der Stadt und im Vorortverkehr; der Benzinverbrauch liegt im Schnitt bei wenig über drei Litern (Super bleifrei). Überraschenderweise arten sogar Fernfahrten nicht zur Tortur aus; für die Strecke Trento-München benötigten wir auf der Autobahn lediglich fünf Stunden.

Die Schwachpunkte der ET 4 sind eher ärgerlich als bedrohlich: So gab die Zeituhr schon früh den Geist auf, das Topcase-Schloß ließ sich zeitweise nur fummelig bedienen, während das Tanken wegen der Überlaufneigung permanent Ärger bereitete.

Schwierig war auch die Kontrolle des Motorölstandes, da das Schauglas wegen eines Konstruktionsfehlers nur schlecht ablesbar ist; dieser Umstand führte zusammen mit der Tatsache eines relativ gering dimensionierten Ölhaushaltes deshalb zu Problemen, weil der typische Rollerfahrer einen Zweitaktmotor gewöhnt ist und dem Ölvorrat üblicherweise keine Aufmerksamkeit zu schenken braucht. Wie aus Händlerkreisen zu hören ist, kommt es deswegen gelegentlich zu Motorschäden, wenn die Ölkontrolle nicht sorgfältig erfolgt. Hier scheint eine Nachbesserung sinnvoll und nötig.

Mit Schweizer Wetterschutzdecke

Damit ein Motorroller - egal ob eine Vespa oder ein anderes Fabrikat - näherungsweise zum Ganzjahresfahrzeug werden kann, bedarf es einiger Überlegungen und der Ausstattung mit Zubehör. Unverzichtbar ist in einem solchen Fall eine möglichst voluminöse Plexiglasscheibe. Das Original-Zubehörteil konnte in der Praxis überzeugen und beeinflußte die Fahreigenschaften nur wenig; einmal löste sich allerdings aus unbekannten Gründen die Befestigung dieser Scheibe, und es war nur der Reaktionsschnelligkeit des Fahrers zu verdanken, daß kein Unglück geschah. Zusätzlich statteten wir die Vespa mit einer vom Schweizer Hersteller IXS stammenden Wetterschutzdecke aus; das 199 Mark teure Stück wird mit Hilfe eines Klettverschlusses und diverser Riemen am Beinschild des Fahrzeuges befestigt und überdeckt Beine und Brust des Fahrers, ohne die Bewegungsfreiheit einzuschränken. Leider verdecken die Riemen auch einen Blinker teilweise.

Während die Anbringung durchaus noch verbesserungsfähig ist, kann die Wirkung der innen gefütterten Wetterschutzdecke nur in den höchsten Tönen gelobt werden: So ausgerüstet, macht Rollerfahren auch bei Null Grad noch richtig Spaß; unser persönliches Temperatur-Waterloo lag bei acht Grad minus auf einer Strecke von fünf Kilometer Länge. Ohne Scheibe und Schutzdecke geht unter zehn Grad nicht mehr viel, bei etwa fünf Grad ist Schluß, wenn man sich nicht dick vermummem will. Zum Thema Stauraum: Wird mehr Platz benötigt, sind von IXS auch textile Seitenkoffer erhältlich.

Das Fazit eines vollen Jahres: An 340 Tagen war es guten Gewissens möglich, die Vespa - zumindest im Kurzstreckenverkehr - einzusetzen. Sie verweigerte niemals den Dienst, schüttelte sich bei niedrigen Temperaturen allerdings gelegentlich unwillig. Die Werkstatt-Erfahrungen waren positiv. Vernünftig ausgerüstet, erscheint uns die 5695 Mark teure ET 4 (sie darf mit Führerschein 1 b und von Klasse 3-Besitzern mit Führerschein vor dem 1.4.80 gefahren werden) gut geeignet, den Zweitwagen einzusparen, da ihre Transportkapazität in vielen Fällen absolut ausreichend ist.

Sollte eine 125er aus irgendwelchen Gründen nicht in Frage kommen: Vespa hat für 4395 Mark auch das 50-Kubikzentimeter-Modell ET 2 im Angebot. Der gleiche Roller ist für 4795 Mark mit einem umweltschonenden Zusatzverbrennungssystem zu haben. Im Großstadtverkehr kommt man mit der ET 2 (fast) genauso schnell überall hin wie mit der - allerdings souveräneren - ET 4.

Von Ulf Böhringer

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