Verkehrswahnsinn in Peking:Der Schwarm

Auto, China, Stau

Die Zahl der Autos weltweit wird sich nach Berechnungen der Organisation erdölexportierender Staaten (OPEC) in rund 20 Jahren verdoppeln. Besonders in China und Indien steigt die Nachfrage nach Neuwagen.

(Foto: dpa)

"Lieber auf dem Rücksitz eines BMW weinen, als auf dem Fahrrad lachen", sagen die Chinesen. Deswegen stehen sie meist im Stau. Unser Korrespondent in Peking ist mitten unter ihnen. Und kämpft mit 5,5 Millionen Autos um einen der 800.000 Parkplätze.

Von Kai Strittmatter

Als ich das erste Mal einen chinesischen Führerschein erwarb, war alles ganz einfach. Das war 1997. Damals ging ich zur Führerscheinstelle, zeigte meinen deutschen Führerschein und einen Zettel, auf dem ich selbst in aller Schnelle das deutsche Dokument ins Chinesische übersetzt hatte. Der Beamte schaute streng: "Da fehlt ja der Stempel", sagte er. Mist, der Stempel. Chinesen stempeln, wie andere Völker atmen. Und jetzt? "Ich hätte da einen", sagte ich schließlich, kramte in meiner Tasche und hielt ihm fragend den SZ-Bürostempel hin. Der Beamte zögerte kurz, nickte. Erleichtert nahm ich das heilige Stempeltrumm, holte weit aus, und - bamm - beglaubigte vor seinen Augen meine eigene Übersetzung. Das war's.

Heute ist das anders. Heute muss man als Ausländer die Fahrprüfung in China noch einmal ablegen. Nein, sie wollen nicht sehen, ob man wirklich Auto fahren kann, Gott bewahre, das hier ist Peking! Verlangt wird vielmehr die Theorie. Theoretisch nämlich gelten auch in Peking Verkehrsregeln. Und so kam es, dass ich nach meiner Wiederankunft im Sommer vorigen Jahres noch einmal eine neue Sprache lernte, eine Sprache namens "Deutsch".

Wenn Staatszwangsverschrottungsnormen und Zusammenflussführungszeichen lauern

Chinas Behörden meinen es gut mit Ausländern und haben das Prüfungsmaterial übersetzt, man kann sich die Bücher etwa in Arabisch, Japanisch oder Koreanisch aushändigen lassen. Hätte ich das mal gemacht. Stattdessen wählte ich "Deutsch". Weil mir das vertraut vorkam. Ha. Ob ich es auch getan hätte, hätte ich vorher gewusst, dass Staatszwangsverschrottungsnormen und Zusammenflussführungszeichen auf mich lauerten? Dass meine Sehvermögenmündigkeit mich nicht von selbst durch die Irreallinienzone leiten würde?

Wenn man der Typ dafür ist, hat Autofahren in Peking etwas Meditatives. Dann nämlich, wenn alles zum Erliegen kommt. Als ich Peking 2005 verließ, gab es dort 1,5 Millionen Autos. Heute, acht Jahre später, sind es 5,5 Millionen, fast vier Mal so viel. Für diese mehr als fünf Millionen Autos gibt es in den Wohngebieten im Moment ungefähr 800.000 Parkplätze.

Der größte Parkplatz der Welt

Tagsüber ist das kein Problem, weil sich dann die ganze Stadt einfach in den größten Parkplatz der Welt verwandelt: Ganz Peking sitzt im Auto, und alle tun so, als führen sie zur Arbeit, während sie in Wirklichkeit Instantnudeln aufbrühen oder mit geschlossenen Augen das Diamantsutra rezitieren. Dieses Sutra ist ziemlich lang, aber das macht nichts: Der längste Stau auf Pekinger Stadtgebiet ereignete sich im August 2010, er dauerte mehr als zehn Tage und hat einen eigenen Eintrag bei Wikipedia ("China National Highway 110 Traffic Jam").

"Lieber auf dem Rücksitz eines BMW weinen, als auf dem Fahrrad lachen", mit dem Satz wurde die Teilnehmerin einer TV-Show über Nacht berühmt. Die Regierung erklärte den Autokauf zum wachstumstreibenden patriotischen Vergnügen und opferte darüber ihre Städte. Warum jetzt trotz Verkehrskollaps alle stolz in ihren Autos sitzen? Weil sie es sich leisten können.

Die Behörden meinen, die Frauen sind schuld

Wenn die Behörden Schuldige suchen für das Chaos auf Pekings Straßen, dann zeigen sie mit dem Finger selten auf sich selbst. In einer sechsteiligen Serie auf dem Mikrobloggingdienst Weibo knöpfte sich die Pekinger Verkehrspolizei vorige Woche Chinas Frauen vor. Der Polizei zufolge sind das jene Wesen, die beim Fahren die Handbremse angezogen lassen, ständig Gas- und Bremspedal verwechseln, darüber das Schalten vergessen und immer wieder mal auf Lastwagen auffahren, weil der Stöckelschuh zwischen den Pedalen feststeckt. Im Übrigen haben Frauen am Steuer manchmal "totale Aussetzer und sind dann Kriminellen leichte Beute". Man darf also Mitleid mit ihnen haben. "Wenn sie alleine sind", heißt es in der Lektion "Fehlender Orientierungssinn", "dann finden sie auch Orte nicht mehr, an denen sie schon oft gewesen sind."

Doch, ich habe vieles gelernt beim Büffeln für meinen Führerschein. Natürlich die drei Goldgrundsätze fürs Fahren in Peking (die werden jetzt noch nicht verraten). Ich kann jetzt gelehrt referieren über die optimale Schwanzfolgenentfernung. Ich habe gelernt, dass der Gabelwurzelwinkel des Gabelstaplers nicht größer als 93 Grad sein darf, und dass nach dem Durchwaten eines Fahrzeugs der Bremseffekt der Bremse nicht mehr derselbe ist. Dass man im Notfall den Vorderstoßpuffer zum Stoßen gegen den Berghang benutzen kann (heute glaube ich, dass hier jenes Ding gemeint ist, das in unserer Sprache "Stoßstange" heißt). Ich habe gelernt, mich vor Fußgängern zu hüten, da sie eine große Durchgangsbeliebigkeit und Richtungswechselhaftigkeit haben. In der Tat.

Beim brennenden Fahrzeug unbedingt die Jalousie schließen

Überhaupt leuchtete vieles ein. Zum Beispiel die Tatsache, dass man das Bremspedal am besten nicht mit dem Rechtsfussgewölbe, sondern mit der Vorderfussohle des Rechtsfusses durchtritt. Dass Autos vor allem wegen der Nichtvorsichtigkeit ihrer Fahrer ins Wasser fallen. Anderes erschloss sich mir nicht beim ersten Lernen. Wieso zum Beispiel sollte ein Fahrer, bevor er aus seinem brennenden Wagen flieht, zuerst die Jalousie schließen?

Zahlen bedeuten etwas in China. Die Neun wird so ausgesprochen wie "ewig", die Acht steht für "reich werden". Es gibt auch Nieten: Die Vier klingt wie "Tod". Als ich 1998 in China einen "Beijing Jeep" kaufte, bekam ich ein Nummernschild, wie man es nur Ausländern andrehte: mit gleich zwei Vieren. Der Jeep war eine tolle Kreuzung aus Traktor und Gartenbank. Als ich im vergangenen Sommer nach sieben Jahren Chinapause wieder nach Peking zurückkam, stand der Wagen noch immer da, als habe er all die Jahre auf mich gewartet. Ein kleines Wunder. Leider war er auch eine Dreckschleuder. Nach der Smogapokalypse im Januar habe ich ihn verkauft, ich fühlte mich wie ein Verräter. Als er davonfuhr, gab es mir einen kleinen Stich. Da fuhr auch mein Nummernschild: 14457. Yao si si wu qi. Abergläubische lesen das mit etwas bösem Willen als: "Du wirst sterben, kraftlos sterben." Mir hatte es immer Glück gebracht.

Ich stehe glücklich im Stau

Das größte Glück war, dass das Schild immer noch da war, als ich nach Peking zurückkehrte. Ein Jahr zuvor nämlich hatte die Stadtregierung erkannt, dass Peking drauf und dran ist zu ersticken, und eine neue Regel eingeführt: Wer ein Auto kauft, braucht zuvor die Zulassung - seit 2011 werden die Nummernschilder nur noch in beschränkter Zahl verlost. Shanghai war klüger, hatte eine solche Regel schon vor vielen Jahren eingeführt, dort werden die Schilder versteigert. Die Pekinger Lotterie verteilt im Moment 20 000 Zulassungen im Monat. Auf die bewarben sich zuletzt 1,68 Millionen Pekinger. Weshalb ich mein altes wiederbekam? Weil mein Nachfolge-Korrespondent sich all die Jahre nicht die Mühe gemacht hatte, den Jeep auf seinen Namen umzumelden. Er steht jetzt Schlange bei der Lotterie. Und ich stehe glücklich im Stau.

Als Ausländer wird man definitiv nicht diskriminiert

Am Anfang lief alles glatt. Den Sehtest bestand ich mit fliegenden Fahnen. Der Arzt zeigte mir grün-rote Vexierbilder. Ich schaute ihn fragend an. Er machte zufrieden ein Häkchen. Er deutete mit einem Stab auf kleine Symbole, die aus der Ferne vor meinen Augen verschwammen. Ich sagte auf Deutsch "Hm", "Hm", und wieder "Hm". Er machte drei Häkchen und gratulierte mir. Als Ausländer wird man definitiv nicht diskriminiert in Peking. Warum ich hernach trotzdem durchfiel beim Test? Zwei Wochen lang hatte ich die 134 Seiten des Prüfungsmaterials durchgeackert, mehr als eineinhalbtausend Fragen in dieser Sprache, die dem mir bekannten Deutsch schon irgendwie verwandt war, mir aber dennoch bis zum Ende so fremd blieb wie das Mittelhochdeutsche.

Testen Sie sich selbst: Bei der Durchfahrt durch die Kreuzung und dem Linksabbiegen soll der Fahrer nicht durch die Kreuzung durchfahren und das Rechtsabbiegen machen. Er soll nochmals durch das Rechtsabbiegen das Linksabbiegen machen. Falsch oder richtig? Wissen Sie nicht? Knoten im Hirn?

Die Chinesen hupen 40 Mal so oft wie Europäer

Ok, jetzt noch etwas Simples: Bei der Fahrt kann sich der Fahrer durch das Fenster auf die Straße spucken. Falsch, eindeutig. Wegen des heißen Wetters können die Fahrer die Fahrzeuge mit nacktem Oberkörper und bloßen Füßen sowie in Pantoffeln beherrschen. Auch falsch. Oder? Warum machen das dann so viele? Und wie ist das mit dem anderen Fahrer, der einen nach dem Weg fragt. Soll man den a) ignorieren oder c) sich die Antwort bezahlen lassen? Ich hatte b) geduldig antworten angekreuzt. Hat mir das das Genick gebrochen?

Chinesische Besonderheiten. In Europa werde die Hupe eines Autos im Laufe ihres Lebens etwa 10.000 Mal betätigt, erklärte unlängst ein Peugeot-Citroën-Manager. "In China 400.000 Mal". 40 Mal so oft. Stille verunsichert viele Chinesen. Stillstand auch. In einer Umfrage der Polizei gaben zwei von drei Befragten zu, rote Ampeln regelmäßig zu überfahren. Chinas Fußgänger haben sich ein eigenes Schwarmwesen geschaffen: das rotblinde Rudel. Wenn der Erste ein Stück in die Straße läuft, dann läufst du mit. Wenn der Nächste sich vorwagt, dann gibst du dem Rückendeckung.

Studenten singen das Zebrastreifenlied

So entsteht ein Sog, der alle an der Ampel Stehenden auf die Straße saugt, am Ende überquert man sie geborgen in der Herde (immer in der Hoffnung, der anbrausende BMW-Fahrer, dem vor einem einzigen Bäuerlein auf der Kühlerhaube nicht bange ist, werde den Blechschaden schon richtig kalkulieren, den er sich bei einer Kollision mit zwei Dutzend Fußgängern einbrockt).

In Hangzhou greift die Polizei nun stets die Vorhut ab, in der Hoffnung, dadurch das Rudel zu zerstreuen. In Shanghai stellen sie die Rotblinden auf ein Podest und lassen sie zur Strafe laut Verkehrserziehungslektüre aus der Zeitung vorlesen. In Huizhou schickten sie als Zebra verkleidete Studenten auf die Straße, die dort mit solcher Leidenschaft den Zebratanz tanzten und das Zebralied sangen ("Zebrastreifen, wir sind Zebrastreifen, oh yeah"), dass vor Schreck tatsächlich ein paar Fahrer kurz auf die Bremse traten. Anfang dieses Jahres erließ die Regierung neue Verkehrsregeln, die Chinas Medien stolz als "die strengsten der Welt" vorstellten.

Der Polizei ist egal, wer seinen Kopf hinhält

Tatsächlich ist manches in den vergangenen Jahren besser geworden. Es gibt sie noch, die Fahrer, die auf der Ringstraße eine Vollbremsung hinlegen, um dann auf dem Standstreifen rückwärts zu pflügen, weil sie die Ausfahrt verpasst haben, aber ihre Zahl ist gesunken. Nach Angaben der Polizei sinkt auch die Zahl der Verkehrstoten, circa 70.000 sollen es im Jahr sein, in Wirklichkeit aber sind es wohl mehr. Die Weltgesundheitsorganisation WHO untersuchte 2011 die Totenscheine von Ärzten und Krankenhäusern - und zählte 220.000 Verkehrstote.

Lamborghiniparken auf dem Gehsteig, Rechtsüberholen über den Fahrradweg - manche Dinge bleiben ungesühnt wie eh und je. Für die meisten Vergehen fängt man sich aber auch in China mittlerweile Punkte ein. Bei zwölf Punkten ist der Führerschein weg, theoretisch. In der Praxis geht man zur Verkehrspolizei, legt den Fahrzeugschein hin, dann fragt einen der Beamte: "Und wer übernimmt jetzt die Punkte?" Dann zeigt man auf den Herrn neben sich, und wenn der schuldbewusst nickt und klaglos bezahlt, ist man sein Strafregister los: Die Punkte laufen aufs Fahrzeug, der Polizei ist egal, wer dafür seinen Kopf hinhält. Von einem europäischen Botschafter erzählt man sich, er habe regelmäßig seine Untergebenen einbestellt und Freiwillige zum Punkteschlucken vortreten lassen.

Wer nur die Straße vor sich fokussiert, hat verloren

Mein Automobilclub bietet das als Service an: Sie suchen unbelastete Chinesen für einen, die für 100 Yuan (12 Euro) pro Punkt als Sündenbock einspringen. Als ich einem befreundeten Pekinger erzählte, in Deutschland müsse man persönlich für seine Punkte einstehen, da reagierte der zunächst ungläubig: "Aber was soll man denn da tun bei zwölf Punkten?" Und dann, entsetzt: "Da darf man doch dann gar nicht mehr fahren!"

Stimmt eigentlich, ganz schön gemein.

Beim zweiten Mal schaffte ich die Prüfung. Vor allem einen guten Ratschlag habe ich mitgenommen. Der Fahrer soll im Lauf der Fahrt einen guten seelischen Zustand immer halten. Das ist gar nicht so einfach, wenn einen von links ein Hummer ohne Nummernschild abdrängt, während man rechts von einer schwarzen Limousine überholt und vorne von einer dreirädrigen Blechkiste geschnitten wird, die gerade dabei ist, das Paar Krücken zu verlieren, das ihr greiser und blinder Fahrer aufs Dach geschnallt hatte. Ach ja, noch die drei Goldgrundsätze für Pekings Straßen. Hier kommen meine persönlichen:

1. Eines hat sich nicht geändert: Wie einst gleicht das Fahren hier mehr einem Videospiel als dem uns bekannten Autofahren. Wer nur die Straße vor sich fokussiert, hat verloren. Am besten, man legt sich jenen glasigen Rundumblick zu, der alle umherhuschenden Teilchen auf einmal auf dem Schirm hat. Sollte das einmal nicht funktionieren, dann vielleicht doch die Pantoffel abstreifen und

2. Augen zu.

3. Mantra murmeln. Wer kein Sanskrit kann, versuche es mit Schwanz-folgen-ent-fernung und beobachte dabei genau seinen seelischen Zustand.

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