Verkehrssicherheit:Zero heißt das Ziel

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Nach dem Einschlag: Passive Sicherheitssysteme können die Unfallfolgen nur eingeschränkt mindern. Wer Unfälle verhindern will, muss früher ansetzen.

(Foto: dpa)

Auto fahren wird in Deutschland immer sicherer. Vom Ziel, irgendwann einmal bei null Unfalltoten anzukommen, ist die Bundesrepublik aber noch meilenweit entfernt. Erfolg verspricht eine Kombination von Verkehrserziehung, verbesserter Infrastruktur und neuester Fahrzeugtechnik. Doch wer soll das bezahlen?

Von Steve Przybilla

Gleich kracht es. Regungslos verharrt der Plastikschädel, bevor das Unvermeidliche geschieht. Ein Knopfdruck, ein Knall, dann ist die Kollision vorbei. "Hat geklappt", sagt Helge Böhme und betrachtet das Ergebnis des Versuchs: Die Aluminiumwaben, auf die der Kopf geprallt ist, wurden zusammengedrückt wie eine Ziehharmonika. Was tragisch klingt, ist in Wahrheit etwas Positives: "Der Hals des Dummys hat genau die Steifigkeit, die er haben sollte", sagt Böhme, der das Dummy-Labor der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) in Bergisch-Gladbach leitet. Mit Schrauben, Drähten und Sensoren arbeiten die Experten an den Unfallpuppen von morgen. Sie sollen dabei helfen, den Straßenverkehr noch sicherer zu machen - oder es zumindest versuchen.

Zunächst die gute Nachricht: Auto fahren wird in Deutschland immer sicherer. Die Zahl der Verkehrstoten ist seit 1970 um 81 Prozent gesunken, wie das Statistische Bundesamt in seiner jüngsten Veröffentlichung bekannt gab. Kamen 1970, im schwärzesten Jahr der Unfallstatistik, noch über 21.000 Menschen im Straßenverkehr ums Leben, waren es 2012 lediglich 3606 Personen - ein historisches Tief, und das bei einem ständig steigenden Verkehrsaufkommen. Die schlechte Nachricht: Vom Ziel, irgendwann einmal bei null Unfalltoten anzukommen ("Vision Zero"), ist die Bundesrepublik noch immer meilenweit entfernt.

Wie macht man die Straßen denn nun sicherer?

Seit Jahren streiten sich Politiker, Verkehrsverbände und die Automobilindustrie, wie man die Straßen nun sicherer macht: Durch mehr Kreisverkehre und moderne Assistenzsysteme? Stabilere Leitplanken? Oder allein durch strengere Gesetze? Und wo muss man überhaupt ansetzen? Ob Unfälle tödlich enden, hängt schließlich von unzähligen Faktoren ab. Neben den üblichen Verdächtigen (Raserei, Alkohol, Missachtung der Anschnallpflicht) spielen das Fahrzeug, das Wetter und der Zustand der Straße eine entscheidende Rolle. Beispiel Landstraßen: Verfügen sie über ein gut befestigtes Bankett, führt ein Abkommen von der Fahrbahn nicht zwingend zum Unfall. Gerät man jedoch an eine ausgefahrene Schlaglochpiste, kann ein Fahrfehler schnell zum Verhängnis führen.

Bernd Lorenz, Referatsleiter bei der Bundesanstalt für Straßenwesen, setzt schon früher an: "Wenn wir die Vision Zero jemals erreichen wollen, brauchen wir unbedingt bessere Testsysteme", glaubt er. Als Beispiel zeigt er einen aktuellen ES2-Dummy, der weltweit bei Crashtests zum Einsatz kommt. Der Großteil seiner Technik stammt noch aus den 80er-Jahren; das Testobjekt ähnelt einer gewöhnlichen Schaufensterpuppe. "In Zukunft wird es darum gehen, die Dummys viel menschenähnlicher zu gestalten", erklärt Lorenz. Beispiel Sensoren: Verfügt der ES2 noch über 50 Messpunkte, wird sich diese Zahl beim Nachfolgemodell, dem WorldSid, vervierfachen. "Die Rippen und Schultern entsprechen dann mehr einem Menschen als einer Puppe", sagt Lorenz, der den WorldSid derzeit in seinem Labor kalibriert. Allerdings hinkt selbst dort die Entwicklung dem Stand der Technik hinterher: Wenn der neue Dummy 2015 erstmals bei EuroNcap-Crashtests zum Einsatz kommt, werden mehr als 20 Jahre Entwicklungszeit hinter ihm liegen.

Mit langen Umsetzungszeiten plagt sich auch der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR), der die Vision Zero vor sechs Jahren als offizielles Leitbild beschlossen hat. Der Verein zählt neben den Verkehrsministerien der Länder auch Automobilklubs und Fahrzeughersteller zu seinen Mitgliedern. Sie alle argumentieren, dass Menschen Fehler machen - also müsse das Verkehrssystem diese verzeihen und ausgleichen. Das gemeinsame Ziel: Durch Baumaßnahmen, verschärfte Gesetze und Investitionen in die Infrastruktur soll die Zahl der Unfalltoten sinken - möglichst auf null.

Droht die Vision Zero im Keim zu ersticken?

Wie dieses Ziel allerdings erreicht werden soll, ist selbst innerhalb des Verbandes umstritten. So fordert der DVR auf seiner Homepage ein generelles Autobahn-Tempolimit von 130 km/h. Der ADAC, ebenfalls DVR-Mitglied, bevorzugt "freie Fahrt für freie Bürger", während der ökologisch orientierte Verkehrsclub Deutschland (VCD) die Grenze bei 120 km/h ziehen möchte. Droht die Vision Zero also schon im Keim zu ersticken - bei denjenigen, die sie eigentlich propagieren wollen? Ganz so düster sieht es der Verband nicht. "Tempolimits sind in der Tat ein heißes Eisen", räumt DVR-Sprecher Sven Rademacher auf Nachfrage ein. In vielen anderen Punkten sei man sich allerdings einig: etwa bei der Forderung nach einem absoluten Alkoholverbot am Steuer. Insgesamt befinde sich Deutschland auf einem guten Weg: "Selbst auf Landstraßen sterben immer weniger Menschen. Das lässt uns hoffen."

Bei den europäischen Nachbarn ist die "Nullvision" populärer. Schweden führte sie bereits 1997 als Staatsdoktrin ein; auch Großbritannien, Österreich, die Niederlande und die Schweiz sind dabei. Offenbar mit Erfolg: Laut der jüngsten Studie des International Transport Forums der OECD sind britische Straßen derzeit am ungefährlichsten. Dort gab es 2011 lediglich 3,1 Verkehrstote je 100.000 Einwohner. Auch die Niederlande (3,28) und Schweden (3,39) rangieren vor Deutschland (4,9). Hierzulande haben sich nur einzelne Bundesländer wie Berlin, Brandenburg oder Nordrhein-Westfalen der Vision Zero verschrieben. Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) lehnt "Zwangsmaßnahmen" wie die 0,0-Promille-Regelung dagegen vehement ab.

Vision Zero: viel mehr als neue Regelungen

Ganz anders die Grünen: Sie gehen über die DVR-Vorschläge sogar noch hinaus, plädieren für ein innerstädtisches Tempolimit von 30 km/h. Ein typischer ideologischer Grabenkampf? DVR-Sprecher Rademacher glaubt das nicht. "Das Problem ist eher, dass sich Politiker gerne an Zahlen messen lassen. Ein Projekt wie die Vision Zero kann man aber nicht in ein paar Jahren erreichen." Zudem drohe die Tempo-Debatte das große Ganze zu übertönen: "Die Vision Zero umfasst viel mehr als neue Regelungen. Es geht darum, schwächere Verkehrsteilnehmer besser zu schützen als bisher." Auch Fuß- und Radwege sollen sicherer werden; der Autofahrer ist nicht mehr das Maß aller Dinge.

Wie das gehen kann, macht die dänische Hauptstadt Kopenhagen vor. Rund 15 Millionen Euro investiert die Metropole jährlich in den Ausbau ihres Radwege-Netzes. Und das hat es in sich: Auf bis zu fünf Meter breiten "Fahrrad-Highways" brausen die Pedalritter schon heute durch die Stadt. Die Idee dahinter: Nur wenn ausreichend Platz zur Verfügung steht, können auch die schwachen Verkehrsteilnehmer sicher überholen. Ganz soweit ist man in Deutschland noch nicht, wenngleich es auch hier vorwärtsgeht. Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) kürt Münster und Freiburg regelmäßig zu den Vorreitern in Sachen Fahrradfreundlichkeit. So dürfen an vielen Münsteraner Ampeln die Fahrradfahrer bei Rot vor den Autos halten und bei Grün früher starten. Diese "Fahrradschleuse" haben Autofahrer automatisch im Blick. Beim Dreisamufer-Radweg in Freiburg ist die Trennung noch klarer: Er zieht sich einmal quer durch die Stadt - in sicherer Entfernung zum parallel verlaufenden Autobahnzubringer.

Doch nicht alle glauben, dass sich die Vision Zero allein durch bauliche Maßnahmen umsetzen lässt. "Rund ein Viertel aller tödlich verletzten Radfahrer sterben bei Alleinunfällen", betont Walter Niewöhner, Unfallforscher bei der Dekra in Stuttgart. Ginge es nach ihm, müsste man vielmehr bei der Verkehrserziehung ansetzen: "Warum tragen eigentlich nur zehn bis zwanzig Prozent aller Radfahrer einen Helm? Und warum können die Leute so ungern zurückstecken? Wenn auf dem Grabstein steht, ,Er hatte Vorfahrt', nützt das auch nichts mehr." Grund zum Optimismus gebe es trotzdem. So seien in den Jahren 1998, 2001 und 2006 keine Reisebus-Insassen in Deutschland ums Leben gekommen. Auch Linienbusse befänden sich auf einem guten Weg - trotz stehender Passagiere und fehlender Sicherheitsgurte.

"Unbelehrbare Raser wird es immer geben"

Andere Verkehrsexperten sind weniger optimistisch. "Wer wirklich null Unfalltote möchte, müsste den Verkehr ganz verbieten", sagt Michael Schreckenberg, Professor für Transport und Verkehr an der Uni Duisburg-Essen. Unbelehrbare Raser werde es immer geben, ebenso Geisterfahrer und Drängler. Deshalb komme es bei schärferen Gesetzen vor allem auf die Dosierung an: "Wenn flächendeckend Tempo 30 eingeführt wird, empfinden das die Leute als Schikane. Dann ignorieren sie es einfach." Die klamme Lage vieler Kommunen verschärfe das Problem noch: "In Duisburg wurden nachts die Ampeln ausgestellt, um Geld zu sparen. Prompt stiegen auch die Unfallzahlen an."

Als letzte Hoffnung bleibt vielen Unfallforschern nur der Glaube an die Technik. "Leider überfordern viele Warnsysteme den Fahrer", sagt Schreckenberg. "Die Menschen verstehen nicht, warum ihr Wagen plötzlich bremst. Viele Bedienungsanleitungen sind ja inzwischen so kompliziert wie Dostojewski." Weil Menschen immer Fehler machten, liege die Zukunft daher in der vollautomatischen Kommunikation. "Wenn Autos per Wlan miteinander reden, lassen sich Auffahrunfälle vermeiden." So könne man auch die Gefahr durch Lastwagen minimieren, die ungebremst aufs Stauende auffahren. "In dem Punkt bin ich optimistisch", so Schreckenberg. "Das lässt sich in den Griff kriegen."

Crashtest-Anlage für die Autos von morgen

In Efringen-Kirchen, einem 8000-Einwohner-Örtchen in der Nähe der Schweizer Grenze, hat das Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik die neue Technik schon im Blick. Im vergangenen Herbst weihten die Wissenschaftler eine neue Crashtest-Anlage ein, die auf Autos von morgen zugeschnitten sein soll. So gibt es eine Schiene im Boden, in der sich mehrere Hochleistungskameras befinden. Sie schießen bis zu 12.500 Bilder pro Sekunde - und geben den unteren Teil eines Fahrzeugs gestochen scharf wieder. "Alternative Antriebe wie Batterien sind oft genau dort verbaut", beschreibt Anlagenmitarbeiter Markus Jung die Idee. "So können wir besser beobachten, was bei Unfällen mit ihnen passiert und die Karosserie dementsprechend verbessern." Große Industrieaufträge seien bisher ausgeblieben - man befinde sich schließlich noch ganz am Anfang.

Zu den Anfängen kann man auch in der Bundesanstalt für Straßenwesen zurückgehen. In einem Mini-Museum sind die Dummy-Modelle der vergangenen 40 Jahre aufgereiht - vom hölzernen "Pinocchio-Kinderdummy" der ersten Generation bis hin zum modernen Säuglingsdummy. "Wenn wir diese Entwicklung betrachten, stimmt das schon optimistisch", sagt Referatsleiter Bernd Lorenz - doch das alles gibt es nicht umsonst. Schon jetzt kostet ein Dummy um die 150.000 Euro. Die neuen, ausgefeilten Modelle, werden bis zu 500.000 Euro wert sein.

Die Nullvision zum Nulltarif wird es also nicht geben. Befürworter stellen deshalb immer die gleiche Frage: "Was glauben Sie denn, was ein Menschenleben wert ist?"

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