Urlaubsverkehr:Wer mit anderen kooperiert, steht kürzer im Stau

Experte Michael Schreckenberg erklärt, warum es nichts bringt, Staus zu umfahren, und weshalb das Reißverschlusssystem ineffektiv ist.

Von Thomas Harloff

1 448 000 Kilometer: Das ist nicht etwa der Tachostand des ältesten deutschen Taxis - auf diesen Wert summierten sich dem ADAC zufolge alle Autobahn-Staus des Jahres 2017. 1 448 000 Kilometer voller Autos mit frustrierten und gelangweilten Insassen, von denen sich wohl die meisten als Opfer der Situation sehen. Dabei sind die Fahrer zu einem beachtlichen Teil selbst schuld an dem, was da passiert - oder besser: was nicht passiert.

Statistiken besagen, dass zwei Drittel aller Staus durch hohes Verkehrsaufkommen verursacht werden. Je etwa 15 Prozent entstehen durch Baustellen und Unfälle, am Rest sind Wetterphänomene Schuld. "Zehn bis 20 Prozent aller Staus könnten wir uns ersparen, wenn sich die Menschen kooperativ verhalten würden", sagt Michael Schreckenberg. Der Physik-Professor der Universität Duisburg-Essen erforscht seit Jahrzehnten Staus und liefert Tipps, wie man gar nicht erst in einen Stau gerät - oder was man tun kann, damit er schneller vorbei ist.

Viele Autos auf wenig Raum bringen den Verkehr nicht zwangsläufig zum Stocken. "Würden sich alle möglichst gleichmäßig fortbewegen, würde der Verkehr trotzdem fließen. Ameisen machen das perfekt vor", sagt Schreckenberg. Im Straßenverkehr klappt das nicht, weil jeder Fahrer sein eigenes Tempo fahren möchte - und die meisten zu geringe Abstände einhalten.

Schreckenberg beschreibt das in einem Modell, das nach ihm und dem Physiker Kai Nagel benannt ist. Das ist sehr theoretisch, lässt sich aber auf eine alltägliche Situation im Verkehr anwenden. Wenn sich ein schnelles Fahrzeug von hinten einem langsamen nähert und dabei bremst, bremst das nachfolgende Fahrzeug noch etwas stärker, das dahinter noch stärker und so weiter. Irgendwann hat sich das Bremsen so verstärkt, dass ein Auto zum Stillstand kommt. Der Stillstand erfasst die Fahrzeuge dahinter ebenfalls, und schon ist er da, der "Stau aus dem Nichts", der sich zudem nur langsam auflöst, da die Fahrzeuge naturgemäß verzögert beschleunigen.

Die Verursacher lernen nicht dazu

Das ist kein neues Phänomen; Nagel und Schreckenberg entwickelten ihr Modell bereits in den frühen Neunzigerjahren. Doch Staus aus dem Nichts gibt es immer wieder. Lernen die Verursacher nichts daraus? Klare Antwort: Nein, das können sie gar nicht. Sobald sich hinter ihnen der Stau formiert (das passiert ja entgegengesetzt zur Fahrtrichtung), fahren sie längst im normalen Tempo weiter. Sie erhalten keine direkte Rückmeldung über die Konsequenz ihres Verhaltens, können es somit nicht infrage stellen, der Lerneffekt bleibt aus. Beim nächsten Mal werden sie es wohl genauso machen.

Selbst dann, wenn der Verkehr schon stockt, haben die Autofahrer weitgehend selbst in der Hand, wie viel Zeit ihnen das Stop-and-Go raubt. "Am besten, jeder bliebe auf der eigenen Spur, dann ginge es für alle am schnellsten", sagt Schreckenberg. Dafür muss man aber erst einmal die eigene Psychologie überlisten. Im Stau bleibt viel Zeit, die Umgebung zu beobachten - und wenn es auf der benachbarten Spur etwas schneller vorwärtsgeht, steigt das Verlangen, dorthin zu wechseln. Kurz danach scheint man wieder die langsamere Spur erwischt zu haben, man drängelt sich auf den Fahrstreifen zurück, auf dem man kurz zuvor bereits war. Doch diese "Kolonnenspringer" erzeugen - gerade wenn sie sich im letzten Moment in besonders kleine Lücken drücken - immer kleine Stauwellen, die sich nach hinten ausbreiten und den dortigen Verkehr zähflüssiger gestalten.

"Das Reißverschlusssystem ist eines der ineffektivsten, das es gibt"

Um solches Verhalten abzupuffern, hilft es, selbst weder abrupt zu beschleunigen noch stark zu bremsen. Besser, man schwimmt mit gleichmäßigem Tempo und ausreichend Sicherheitsabstand mit dem Verkehrsstrom mit. Doch das fällt ähnlich schwer, wie ein anderes Auto erst direkt vor dem Hindernis einfädeln zu lassen, wenn eine Spur verstopft ist. "Das Reißverschlussverfahren benachteiligt gewisse Verkehrsteilnehmer massiv, wenn es ideal praktiziert wird", erklärt Michael Schreckenberg. "Es fährt einer nach vorne und überholt Sie, obwohl Sie schon auf der verbleibenden Spur sind. In dem Moment haben Sie das Gefühl, dass der hinter Sie gehört, weil er zuvor schon hinter Ihnen war. Das ist reine Psychologie." Weil dadurch um Zentimeter und Positionen gerungen wird, hält Schreckenberg das Reißverschlusssystem "für eines der ineffektivsten, das es gibt." Er plädiert deshalb für einen Fairness-Parameter, der die Wartezeit der Fahrzeuge berücksichtigt - und wohl erst dann angewendet wird, wenn Autos vernetzt und automatisiert fahren.

Keine Diskussion gibt es dagegen über die Rettungsgasse (wie diese gebildet wird, lesen Sie hier). Diese formieren Sie am besten sofort, sobald Sie im Stau ankommen - und nicht erst dann, wenn Sie sehen, dass sich die Einsatzkräfte von hinten nähern. Sowohl die Retter als auch die Hilfesuchenden werden es Ihnen danken.

Doch ist es nicht besser, von vornherein auf eine andere Route auszuweichen, sobald der Verkehrsfunk oder das Navigationssystem einen Stau melden? "Nein", sagt Schreckenberg, "das ist meist völlig sinnlos." Der Experte rechnet vor: "Bei einem Überlastungsstau haben Sie immer noch eine interne Geschwindigkeit von etwa zehn km/h. Das heißt, ein fünf Kilometer langer Stau kostet Sie eine halbe Stunde. Auf einer Ausweichroute jenseits der Autobahn ist der Zeitverlust dagegen unvorhersehbar."

Hier treffen zwei Probleme aufeinander: Einerseits kommen viele Fahrer - oder deren Navigationssysteme - gleichzeitig auf die Idee, eine Ausweichroute zu wählen. Außerdem können die umliegenden Bundes-, Landes- oder Kreisstraßen den Autobahnverkehr nur schwer aufnehmen, der zudem an Kreuzungen, Ampeln oder Ortsdurchfahrten immer wieder verlangsamt wird oder gar zum Stillstand kommt. "Im Stop and Go zu bleiben, ist meistens schneller, auch wenn uns das Navi oder die eigene Psychologie etwas anderes vermitteln", sagt Schreckenberg. Da man beim Umfahren ständig in Bewegung ist, hat man zwar das Gefühl, schneller voranzukommen. Doch oft sind die Umwege lang, die Durchschnittsgeschwindigkeit ist gering - und deshalb ist meist mehr Zeit verloren, als wäre man im Stau geblieben.

Der Experte rät: nachts fahren!

Am besten lässt sich nerviges Im-Stau-Stehen natürlich durch eine vorausschauende Planung der Fahrt vermeiden. Schwierig sind in der Ferienzeit der Freitag, weil hier zum Urlaubs- noch der Pendlerverkehr kommt, und die Wochenendtage, an denen meist der Quartierwechsel stattfindet. Besser sind meist diejenigen dran, die sich Wochentage für ihre Urlaubsfahrten aussuchen. Schreckenberg plädiert zudem dafür, nachts zu fahren: "Das hat verschiedene Vorteile: Es gibt weniger Verkehr, im Auto wird es nicht so heiß, und während der Rest der Familie schläft, kann der Fahrer konzentriert Strecke machen." Doch es gibt auch Nachteile: Man sollte ausgeruht und nachtsichttauglich sein, zudem ist der erste Urlaubstag für den Fahrer wegen Schlafmangels meist dahin. Ob man lieber Zeit und Nerven im Stau verliert oder den ersten Urlaubstag nutzt, um Schlaf nachzuholen, muss natürlich jeder für sich entscheiden.

Das Stauproblem wird sich durch immer mehr Bauvorhaben und eine stetig wachsende Verkehrsdichte noch verschärfen. Erst das autonome Fahren dürfte die Situation wieder entspannen. "Automatisierte Systeme werden uns viele Staus ersparen", prognostiziert Schreckenberg. Doch wann diese wirklich ausgereift sind, weiß heute noch niemand. Es dürfte sich also durchaus noch lange lohnen, die Experten-Tipps zu befolgen, um einen Stau für alle kürzer, entspannter und damit angenehmer zu machen. Oder ihn gar nicht erst entstehen zu lassen.

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