Unterwegs:Meister der Zeit

Hatte uns das Smartphone nicht mehr Bewegungsfreiheit durch ein "überall und zu jeder Zeit" versprochen? Navigations-Apps mit der genauen Fahrtdauer weisen wie Glaskugeln in die Zukunft. Aber sie sind so trügerisch wie jedes Orakel.

Von Joachim Becker

Sollte es da draußen einen Masterplan für die Mobilität im 21. Jahrhundert geben? Unseren Erfahrungen nach ist das unwahrscheinlich, aber nicht völlig ausgeschlossen. Wir hätten jedenfalls einen kurzen Absatz zum Thema "Echtzeit", der dort hineingehörte. Gemeint ist keine physikalische Größe, sondern eine wunderbare Illusion: das Versprechen, die Zukunft erkennen zu können. Einfach, indem man auf sein Smartphone glotzt.

Glaskugeln für den Blick in die Zukunft gibt es in Mythen ja schon länger. Heute sind sie in jedem App-Store unter dem Namen Echtzeit-Navigation erhältlich. Das Prinzip ist simpel: Ziel eingeben und die minutengenaue Ankunftszeit genießen. Zugegeben, Fahrpläne hat die Bahn seit vielen Jahren. Aber noch nicht allzu lange mit Echtzeit-Kontrolle. Bewaffnet mit diesem Prognosegerät wähnt man sich selbst im Feierabendverkehr nahezu unverwundbar. Und fährt, sagen wir mal, von München nach Saarbrücken.

Auf der Straße ist dieses Echtzeitspiel lustiger als auf der Schiene. Denn es gibt mehr mögliche Spielzüge und viel mehr Mitspieler. Um die Spannung zu steigern, kann man sich zu einem Orchesterkonzert mit einer berühmten Pianistin aufmachen. Vorbei am schwarzen Loch Stuttgart, von dem man ja weiß, dass die Uhren dort etwas anders gehen. Egal, ob in kilometerlangen Staus oder auf Schleichwegen drum herum: Die Zeit rast, und die Landschaft fliegt vorbei. Doch die restliche Fahrtdauer bleibt wie angenagelt bei 2,45 Stunden stehen.

Hatte man uns nicht mehr Bewegungsfreiheit und die souveräne Bemeisterung der Zeit versprochen? Darüber lässt sich trefflich sinnieren. Besonders vor einer ortsbekannten Tunnelsperre, die unser Schlautelefon ganz und gar nicht vorhergesagt hatte. Am Ende halfen nur der befreundete Musiker, die Hintertreppe zum Bühneneingang und die Umbaupause vor dem zweiten Stück. Klassische Musik hat ja etwas ungemein Beruhigendes.

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