Unterwegs:Kratzen gegen die Utopie

In Zukunft wird man uns zwar nicht mehr als Fahrer brauchen, wohl aber als zahlende Kunden. Ob die selbstfahrende Autos dann auch ihre Dächer und Scheiben ohne menschliches Zutun von Schnee und Eis befreien werden? In Erwartung der Antwort kratzen wir weiter.

Von Jörg Reichle

Seit einiger Zeit hört, liest und spricht man, wenn es um Autos geht, zweierlei: Entweder es dreht sich darum, dass sie uns vor allem stinken, also um die ganze unappetitliche Abgasmalaise und was noch daraus werden kann. Oder gleich um die ganz großen Zukunftsfragen. Darum, dass die Dinger in absehbarer Zeit ganz von alleine fahren, weil sie das sowieso besser können werden als wir, die nachgewiesenermaßen fehlbaren Lenker.

Aber während wir noch vollgesäuselt werden von all den schönen Utopien und sich die Autohersteller selber überflügeln mit wohlfeilen Versprechungen für die rosige Zukunft und natürlich nicht dazusagen, dass man uns zwar nicht mehr als Fahrer brauchen wird, wohl aber als zahlenden Kunden, der für sein eigenes Überflüssigsein auch noch Zigtausende Euro auf den Tisch des Hauses legen darf, stapft unsereins morgens seufzend zu seinem eingefrorenen Auto unter der Laterne vor dem großen Tor. Zähneknirschend und mit dickem Hals unterm Wollschal schabt und fegt er dann die weiße Pracht von Dach und Haube auf seine nagelneuen Lederschuhe, nässt dabei auch Flanell und Socke und kratzt mittels einer im Fahrzeug vergessenen CD-Hülle aus der Vor-Spotify-Zeit hingebungsvoll die zugefrorenen Scheiben frei. Das verwandelt die handschuhlosen Finger im Nu in tiefrot bis tiefblau gefärbte bewegungsunfähige Kleinwürste, ohne freilich das gewünschte Ergebnis zu erzielen.

Solchermaßen gemartert, müht sich der Automobilist im arktischen Hier und Jetzt die gleichfalls geeiste Tür zu öffnen (nicht ohne die sensiblen Gummidichtungen irreparabel zerstört zu haben) und lauscht sodann bange dem Anlasser, der sich mit orgelnder Anstrengung lange müht, den tiefgefrorenen Vierzylinder zur Arbeit zu bewegen. Für die Heizung gilt das auch, nur dass die sowieso erst im Angesicht des nahen Kältetods des Fahrers einen Anflug von Wirkung zeigt.

Ob wohl selbstfahrende Autos in Zukunft auch ihre Dächer und Scheiben ohne menschliches Zutun von Schnee und Eise befreien, zuzüglich natürlich der diversen Radarsensoren, die unterm weißen Panzer so blind sein werden wie tausend Maulwürfe? Wir wüssten es gern, doch davon sagt keiner was. Kratzen wir also weiter.

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