Unterwegs:Immer auf der falschen Spur

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich fahre in der falschen Spur. Grundsätzlich. Immer geht es nebenan schneller voran. Warum das so ist? Keine Ahnung. Sogar mein Therapeut hält mich für den geborenen Verlierer.

Von Jörg Reichle

Vielleicht geht es Ihnen ja genauso, aber ich fahre grundsätzlich auf der falschen Spur. Immer geht es auf der daneben schneller voran. Und kaum habe ich mich - knapp genug - auf den gerade noch schnelleren Fahrstreifen reingezwängt, prompt geht es dort, wo ich gerade noch war, plötzlich zügig dahin. Und ich stehe mal wieder. Da kann ich machen, was ich will. Warum das so ist? Keine Ahnung, schlechtes Karma vielleicht. Oder ein Fingerzeig von ganz oben, nach dem Motto: Die Letzten werden die Ersten sein, so was in der Art. Ziemlich lächerlich, wenn Sie mich fragen. Sogar mein Therapeut bemitleidet mich schon und hält mich vermutlich für den geborenen Verlierer. Ins Gesicht sagen würde er mir das natürlich nicht, schließlich will er ja noch möglichst lange an mir verdienen. Also hält er mich mit launigen Tipps bei der Stange. Sagt Sachen wie:"Kaufen Sie sich doch ein anderes Auto, etwas Schnelleres, Eindrucksvolleres, so was schafft eigentlich immer freie Bahn." Tut es natürlich nicht, wie auch?

Eine Erklärung, wenn auch keine, die meine Trübsal lindert, könnte die Wissenschaft liefern. Die hat in den USA das ganze Fahrspuren-Drama schon vor Jahren aufs Korn genommen. Danach verhält sich der Verkehr wie ein Akkordeon. Verlangsamt sich der Verkehrsfluss zu einem Stau, komprimiert sich das Ganze, löst sich der Stau auf, wird das Akkordeon auseinandergezogen. Und weil diese Wechsel auf den unterschiedlichen Spuren zu unterschiedlichen Zeiten stattfinden, kann es sein, dass ein Fahrer auf der auseinandergezogenen Spur die komprimierte Kolonne auf der Nachbarspur rasant passiert. Nur, um kurz darauf selbst in der Quetschkommodenspur zu stehen. Und dann viel Zeit zu haben, um zuzuschauen wie alle anderen auf der Nachbarspur wieder vorbeiziehen. Außerdem werde die Täuschung umso stärker, je dichter man auf den Vordermann auffährt und je häufiger man zur anderen Spur hinüberblickt. So bekomme man intensiver mit, wer einen überholt, als wen man selbst überholt hat. Sagen die Forscher.

Also alles bloß Täuschung? Ich weiß ja nicht. Andererseits scheine ich nicht der einzige Verlierer zu sein im täglichen Fahrspur-Roulette. Das tröstet dann doch. Irgendwie.

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