Technische Hochschule Ingolstadt:Forschen für eine Zukunft ohne Verkehrstote

Crashtestanlage, Fahrsimulator und Roboter aus dem 3D-Drucker: Ein neues Testzentrum der TH Ingolstadt bietet den Wissenschaftlern perfekte Bedingungen, um die Sicherheitssysteme von morgen zu entwickeln.

Von Mirjam Uhrich

7 Bilder

Carissma

Quelle: Lukas Barth

1 / 7

Der Wagen ist viel zu schnell. Er kommt immer näher. Die Scheinwerfer leuchten auf, die Bremsen quietschen. Wasser spritzt unter den Reifen, die auf der nassen Fahrbahn nach Halt suchen. Mit einem Ruck bleibt das Auto stehen. Gerade noch rechtzeitig. Fast hätte es den Fußgänger mit der dunkelblauen Kapuze erwischt, der hinter einem parkenden Auto auf die Straße gerannt ist.

"Alles gut gegangen", ruft Igor Doric, Ingenieur am neuen Forschungszentrum Carissma der Technischen Hochschule Ingolstadt. Er drückt auf einen Knopf, schlagartig hört der Regen auf zu prasseln. Der Fußgänger bleibt stehen, das linke Bein noch angewinkelt. In dem Regenanzug steckt ein Roboter aus dem 3D-Drucker, mit künstlichen Muskeln und Sehnen. Doric hat ihn programmiert, der Roboter ist seine Doktorarbeit.

CARISSMA

Quelle: Lukas Barth

2 / 7

Die Szene war nur ein Test, aber solche Situationen führen oft zu Verkehrsunfällen. Vergangenes Jahr sind laut Verkehrsministerium 614 Menschen im bayerischen Straßenverkehr gestorben, 71 161 wurden verletzt. Mit dem neuen Forschungszentrum soll sich das ändern. Die Wissenschaftler tüfteln dort für ihren Traum: Niemand soll mehr bei einem Unfall sterben. Vision Zero also.

CARISSMA

Quelle: Lukas Barth

3 / 7

Es sind Sekunden, die über Leben oder Tod entscheiden. Das Forschungsteam arbeitet zum Beispiel an einem Airbag, der sich schon vor dem Unfall entfaltet, und an einer App, die den Autofahrer mit einem Signalton vor kreuzenden Fußgängern warnt. "Im Fokus steht der Schutz von Fußgängern und Radfahrern", erklärt Thomas Brandmeier, Professor für Fahrzeugsicherheit und wissenschaftlicher Leiter von Carissma. "Wir wollen die aktive und passive Sicherheit erhöhen. Wir entwickeln Strategien zur Unfallvermeidung und testen Sicherheitssysteme für den Notfall."

(Im Bild: Igor Doric, Ingenieur am neuen Forschungszentrum Carissma der Technischen Hochschule Ingolstadt.)

CARISSMA

Quelle: Lukas Barth

4 / 7

Zehn Labore stehen dem Forschungsteam dafür seit März zur Verfügung: Fahrsimulator, Plattform-Roboter und Fallturm gehören genauso zur Ausstattung wie virtuelle Hindernisse und realitätsnahe Attrappen. "Kein Autohersteller verfügt über ein vergleichbares Forschungszentrum", sagt Brandmeier. 14 Millionen Euro hat sich der Freistaat das Zentrum kosten lassen, ebenso wie der Bund. Bald werden dort 85 Wissenschaftler forschen. Die Zusammenarbeit mit der Industrie soll besser werden, die Forschung schneller. Nach fünf, sechs Jahren sollen neue Sicherheitssysteme auf dem Markt sein.

Das Herzstück des bronzeverkleideten Forschungsbaus ist die Indoor-Versuchsanlage, eine 123 Meter lange Straße in einer Industriehalle. LED-Röhren baumeln von der Decke, hüfthohe Betonschutzwände grenzen die Straße ab. Ein Muster aus schwarzen Bremsspuren zieht sich über den Fahrbahnbelag. Es ist nicht irgendeine Teerschicht, sondern der durchschnittliche Fahrbahnbelag von Ingolstadt. Genauso ortstypisch ist der Regen, der aus einer Bewässerungsanlage die Straße besprüht. "Dafür haben wir den Ingolstädter Regen vermessen. Wie groß die Tropfen sind, wie viele Tropfen fallen und so weiter", erzählt Doric. Die künstlichen Bedingungen sollen so natürlich wie möglich sein.

CARISSMA

Quelle: Lukas Barth

5 / 7

Am Ende der Halle stehen zwei schwarze Audis. Der Lack zerkratzt, die Motorhaube verbeult, die Windschutzscheibe zersplittert. Totalschäden, auf die die Wissenschaftler besonders stolz sind. Mit Tempo 35 haben sie den einen Wagen gegen einen knallgelben Pfahl prallen lassen, den anderen mit Tempo 56 seitlich gegen eine Barriere. Mit Erfolg: Die Motorhauben sind zerstört, Kabel stehen hervor. Aber im Fahrzeuginnenraum deuten nur die schlaffen Airbags auf den Aufprall hin.

Ein Kleinwagen hätte den Crashtest vermutlich nicht überstanden, sagt Brandmeier. "Natürlich ist das Risiko, bei einem Unfall zu sterben, in einem Kleinwagen größer. Die Modelle sind nicht mit vergleichbaren Sensorsystemen ausgestattet." Im Forschungszentrum werden vor allem hochpreisige Autos untersucht, wichtige Industriepartner sind Audi, BMW und VW.

CARISSMA

Quelle: Lukas Barth

6 / 7

Mit einem Fahrsimulator prüfen die Wissenschaftler aus Ingolstadt, inwieweit Menschen selbstfahrenden Autos vertrauen: Ein halber VW Golf steht auf einer Hebebühne, der Fahrer setzt sich auf den Beifahrersitz. Ein Blick durch die Windschutzscheibe zeigt eine computersimulierte Straße, die sich durch kleine Ortschaften schlängelt. Sobald die Simulation startet, lehnt sich der Golf wie ein Achterbahnwagen in die Kurven. Er beschleunigt, schert aus und überholt einen silberfarbenen Wagen. Der Motor röhrt. Auf der Gegenspur nähert sich ein LKW. Gerade noch rechtzeitig schert der Golf wieder ein, der tatenlose Fahrer kann durchatmen.

(Im Bild: Das Interieur eines Versuchsfahrzeuges von Audi.)

CARISSMA

Quelle: Lukas Barth

7 / 7

Erste Ergebnisse zeigen, dass Fahrer der Automatik vertrauen. Daran wird auch der tödliche Unfall eines selbstfahrenden Tesla im Mai in den USA langfristig nichts ändern, ist der Leiter der Studie überzeugt: "Wir können nicht erwarten, dass die Technik 100 Prozent sicher ist. Aber sie ist sicherer als der Mensch", sagt Andreas Riener, der sich auf die Interaktion zwischen Mensch und Fahrzeug spezialisiert hat. Im Forschungszentrum wird deswegen weiter getüftelt - für eine Zukunft ohne Verkehrstote.

© SZ vom 27.07.2016/vewo/harl
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: