SZ-Serie Nahverkehr weltweit:Warschaus Verkehr ist ein täglich wiederkehrender Albtraum

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Eine Straßenbahn vor dem Warschauer Kulturpalast (Archivbild).

(Foto: AFP)

Polens Hauptstadt verfügt über die Zutaten für einen funktionierenden öffentlichen Nahverkehr. Trotzdem fahren die Einwohner einer der dreckigsten Städte Europas lieber Auto.

Von Florian Hassel

Mitte April hoffen die Lenker von Warschaus öffentlichem Nahverkehr auf massenhaft patriotisch-jugendliche Unterstützung. Vom 15. April an können Schulkinder beim "Patriotischen Verkehrspiel" erforschen, wie sie auf dem Stadtgebiet am besten über 130 Schauplätze des Kampfes der polnischen Untergrundarmee gegen die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg erkunden - ausschließlich mit Straßenbahnen, U-Bahnen oder Bussen, versteht sich. Wer, dokumentiert durch eine entsprechende App, die meisten Informationen sammelt und die besten Wege findet, wird von der Stadt bei einer Zeremonie einschließlich festlicher Musik der Chopin-Musikhochschule geehrt.

Das patriotische Verkehrsspiel ist nicht die einzige Methode, mit der die Stadtväter ihre Bürger dazu bringen wollen, Warschaus öffentlichen Nahverkehr öfter zu nutzen. Unterricht in den Schulen, Park+Ride-Parkplätze an U-Bahn-Stationen, Tausende über Polens Hauptstadt zum Frühlingsbeginn verteilte Leihfahrräder - Warschau versucht alles, um mehr Bürger aus dem Auto zu bekommen. Das hat Polens Hauptstadt noch dringender nötig als andere Städte.

Die Wirtschaft boomt, die Zahl der Autos explodiert, wie Warschau selbst wachsen auch umliegenden Regionen weiter und bringen täglich Hunderttausende Menschen mit dem Auto in die Hauptstadt. Warschauer Staus sind berüchtigt - nicht nur dort, wo sich Fahrer auf dem Weg zur Arbeit und zurück über die ständig überlasteten acht Autobrücken über die Weichsel quälen. So epochal die Staus, so mies ist oft die Luft in einer der am stärksten verpesteten Großstädte Europas.

Gewiss, rein technisch hat Warschaus öffentlicher Nahverkehr einen rasanten Aufschwung hinter sich. Eine moderne U-Bahn, neue Straßenbahnwaggons auf vielen Strecken, teils neue Elektrobusse: Wer im Warschauer Zentrum oder nördlich oder südlich wohnt, lebt bequem. Innerhalb von Minuten ist er im Zentrum, per Straßenbahn oder U-Bahn, mit modernen Stationen und Zügen das Vorzeigestück des Warschauer Nahverkehrs.

Auf den zweiten Blick strahlt die Bilanz weniger hell

Wo sich der deutsche Nahverkehrsgast für den kontaktlosen Ticketkauf in fast jeder deutschen Großstadt eine eigene App des jeweiligen Verkehrsbetriebs aufs Mobiltelefon laden muss, kann er in Warschau zum Ticketkauf den gleichen Dienst nutzen wie in anderen polnischen Großstädten. Wer schnell weiter will, steigt im Warschauer Zentralbahnhof neben dem Wolkenkratzer der Stalin-Zeit in einen modernen Zug japanischer Bauart nach Krakau oder Danzig. Gerade erst freuten sich die Warschauer Verkehrsbetriebe ZTM, dass gut die Hälfte der Warschauer täglich in Bus, U- oder Straßenbahn steigt.

Auf den zweiten Blick aber strahlt die Bilanz weniger hell: Einer städtischen Studie zufolge sank die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs in Warschau zwischen 2005 und 2015 um sieben Prozent. Mehr noch als andere Städte kämpft Warschau mit dem schlechten Erbe der Vergangenheit und mit aktuellen Sünden, der Faulheit der Autofahrer und politischer Feigheit.

Schlechte Land- und Städteplanung

Straßenbau, öffentlicher Nahverkehr und das Zugnetz wurden nicht nur in Warschau über Jahrzehnte vernachlässigt. Im boomenden, oft auch korrupten nachkommunistischen Polen wurde und wird im Zweifelfall erst gebaut - und irgendwann danach einmal darüber nachgedacht, wie die Einwohner der neuen Stadtteile oder Satellitenstädte eigentlich zur Arbeit kommen sollen. Polens Land- und Städteplanung gehört laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) zu den schlechtesten aller Industrieländer.

Am übelsten ergeht es den täglich über 300 000 nach Warschau und zurück fahrenden Pendlern aus dem Umland. Wo es Zuglinien gibt, sind die Bahnhöfe, wie in der 20 000-Einwohner-Stadt Sulejówek am Ostrand von Warschau, kaum ans lokale Bussystem angeschlossen. Die Folge: Allein aus Sulejówek fahren Tausende täglich mit privaten Bussen oder mit dem Auto zur Arbeit nach Warschau. Wer noch weiter weg wohnt, sitzt leicht vier Stunden täglich im Auto nach Warschau und zurück.

Kilometerlange Staus in "Mordor"

Und auch für viele Warschauer (offizielle Einwohnerzahl: 1,76 Millionen) ist Verkehr vor allem eins: ein täglich wiederkehrender Albtraum. So haben viele Firmen ihre Hauptquartiere nordwestlich des Warschauer Flughafens in glänzenden Neubauten aufgeschlagen; allein hier arbeiten Zehntausende Menschen. Eine U-Bahn-Station aber gibt es nicht. Viele Warschauer nennen das Hauptquartier-Viertel "Mordor" - in Anlehnung an das Reich des Bösen im Buch "Herr der Ringe", das seine Bewohner zwar hinein-, aber kaum je wieder hinausließ. Vor allem abends sind Mordors Staus in andere Stadtteile oder ins Umland kilometerlang.

Auch neue Wohnviertel sind nicht besser dran. Das U-Bahn-Netz ist neu, aber klein: Nur eine Linie verbindet den Norden mit dem Süden Warschaus. Eine zweite Linie, die das Stadtzentrum mit Quartieren jenseits der Weichsel verbindet, nahm erst 2015 den Betrieb auf und ist noch eine Rumpflinie mit wenigen Stationen. So fahren in Warschau bisher gerade mal 48 U-Bahn-Züge. In Wilanów, einem Modeviertel in der Nähe eines ehemaligen Palasts des polnischen Königs im Südosten der Stadt, haben Investoren Wohnblocks für Zehntausende aus dem Boden gestampft. Das öffentliche Nahverkehrsnetz aber ist hier miserabel. Verkehrsplaner sind schon froh, dass mit Millionen der EU bald wenigstens eine schnelle Straßenbahnlinie ins Stadtzentrum entsteht.

Und so setzen sich viele Warschauer fluchend, aber unverdrossen ins Auto, mit weiter steigender Tendenz. Auf 1000 Warschauer kommen 619 Autos - fast doppelt so viel wie in Berlin. Benzin ist billig, Parken ebenfalls. Und wo es keine Parkplätze gibt, parken Warschauer auf Bürgersteigen, Rasenstücken oder was sonst gerade verfügbar ist - Strafzettel oder Abschlepper müssen sie bisher kaum fürchten.

Der private Autoverkehr - in Warschau fast ein Drittel des Verkehrs - ist nicht nur wegen Staus und verlorener Zeit ein Problem. Von den 50 Städten mit der dreckigsten Luft in Europa liegen laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) gleich 33 in Polen, darunter auch die alte Königsstadt Krakau. Warschaus Feinstaubwert wiederum lag am 8. Januar 2018 bei bis zu 416 Mikrogramm auf einen Kubikmeter Luft - die EU erlaubt gerade einmal 50 Mikrogramm. Dem "Warschauer Smog-Alarm" zufolge entsprechen zwei Stunden Hauptstadtluft dem Konsum von täglich mehr als drei Zigaretten. Aber die Autos sind nicht die einzigen Dreckschleudern. Polen heizt und produziert seinen Strom immer noch zu einem großen Teil mit heimischer Kohle; jede Regierung scheut den Konflikt mit den immer noch 90 000 Bergleuten.

Vorerst kein kostenloser Nahverkehr in Warschau

Die Idee, die Luft etwa durch die Einführung eines in einigen polnischen Kleinstädten kostenlosen Nahverkehrs zu entlasten, wurde im Warschauer Stadtrat Ende 2017 abgelehnt; wegen der hohen Kosten und auch, weil Fachleute befürchteten, die gut verdienenden Warschauer würden selbst bei kostenlosem Nahverkehr weiter im Auto sitzen. Radikalere Lösungen - die Innenstadt für Autos zu sperren oder wie in London nur noch gegen horrende Tagesmaut zugänglich zu machen - sind nicht einfach umzusetzen.

Vor allem im Warschauer Umland gibt es an vielen Stellen kein ausgebautes öffentliches Nahverkehrsnetz. Und in Warschau sind die 475 000 Plätze in 1500 Bussen, 425 Straßenbahnen, den 48 U-Bahn-Zügen sowie 19 Vorortzügen zu den Stoßzeiten schon jetzt komplett ausgelastet. Außerdem wird in Polen bald gewählt: in Warschau im Herbst 2018, ein Jahr darauf auf nationaler Ebene. Stadtväter, die den unpopulären Schritt einer Autosperre oder -maut beschließen, könnten bald abgewählt werden.

Gewiss: Fußgänger und Radfahrer würden sich über harte Maßnahmen gegen Autofahrer freuen. Allerdings geht selbst bei kurzen Wegen kaum ein Warschauer noch zu Fuß. Angesichts nur halbherzig ausgebauter oder fehlender Radwege steigen auch nur wenige Warschauer aufs Rad. Während in deutschen Großstädten die Fahrradnutzung kontinuierlich steigt und in Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen schon über 40 Prozent aller Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt werden, waren Warschauer Verkehrsplaner schon stolz, als sie vor kurzem einen Verkehrsanteil von fünf Prozent für das Fahrrad melden konnten.

Die SZ berichtet in dieser Serie über den Nahverkehr in den Metropolen der Welt. Alle Folgen unter www.sz.de/nahverkehr

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