SZ-Serie: Nahverkehr weltweit:In Madrid bestimmt die Metro den Takt

SZ-Serie: Nahverkehr weltweit: Sie ist zuverlässig und die Bahnhöfe sind sauber: Die Madrilenen sind zu Recht stolz auf ihre Metro.

Sie ist zuverlässig und die Bahnhöfe sind sauber: Die Madrilenen sind zu Recht stolz auf ihre Metro.

(Foto: imago stock&people)

Fast überall schimpfen die Menschen auf den Nahverkehr. Die Madrilenen dagegen sind stolz auf ihre U-Bahn. Zu Recht: Sie ist ein Symbol für einen gelungenen Wandel der Verkehrspolitik.

Von Thomas Urban, Madrid

Es ist nicht der Prado, das berühmte Kunstmuseum, es ist nicht Real, der Königliche Fußballverein, worauf die Madrider am stolzesten sind. Den Prado besuchen vor allem Touristen, und die teuersten Fußballer der Welt haben in der spanischen Hauptstadt einen womöglich noch populäreren Lokalrivalen, Atlético. Es ist etwas ganz Banales, Alltägliches: die Metro. Sie ist nicht die modernste der Welt, sie ist alles andere als spektakulär, viele Waggons sind veraltet, manche Stationen bedürfen dringend einer Renovierung. Aber sie ist zuverlässig, ein Viertel der Hauptstädter nutzt sie täglich. Die Metro gibt den Takt der Stadt vor.

Zwar liegen keine offiziellen Statistiken über die Beliebtheit der Madrider Institutionen vor, aber die Fans der Metro verweisen darauf, dass sie am wenigsten für negative Schlagzeilen sorgt und auch am wenigsten die Leserbriefspalten der lokalen Tageszeitungen füllt. Das letzte Mal war dies vor sechs Jahren, und es hatte nur indirekt mit dem Betrieb der Untergrundbahn und ihren Passagieren zu tun. Damals wurde der Name der wichtigsten Station im Zentrum, an der sich drei Linien kreuzen, umbenannt: Bis dahin hieß sie "Sol", benannt nach der Puerta del Sol, dem nach Osten zeigenden Sonnentor der alten Stadtmauer, das einst dort stand. Daraus wurde damals "Vodafone Sol". Der britische Telekom-Multi zahlte pro Jahr eine Million Euro in die Kassen der Region Madrid, die der Betreiber der Metro ist. Begründung der konservativen Regionalregierung: Die Kassen seien leer, auf diese Weise würden viele Arbeitsplätze bei der Metro erhalten.

In der Tat waren die Kassen leer, die gesamte spanische Volkswirtschaft war nach dem Platzen einer gigantischen Immobilienblase vor zehn Jahren in Schieflage geraten. Doch in den vorangegangenen Boomjahren war viel Geld auch für den Ausbau der Metro ausgegeben worden. Das Streckennetz verdoppelte sich innerhalb von zwei Jahrzehnten auf 293 Kilometer, ein in Europa einmaliger Zuwachs in diesem Tempo. Madrid kletterte auf Platz drei unter allen europäischen Untergrundbahnen nach London und Moskau. Im Durchschnitt liegen die Stationen nur wenig mehr als einen Kilometer auseinander.

Zur gleichen Zeit wurden auch gewaltige Investitionen im Straßennetz vorgenommen, allerdings mit zwei gegenläufigen Tendenzen. Einerseits wurde der Autobahnring um Madrid mitsamt Zubringertrassen ausgebaut, andererseits begann der Rückbau von Straßen im Zentrum. Keine europäische Metropole weist so viele Autobahnkilometer in ihrem unmittelbaren Einzugsbereich auf. In den Krisenjahren nach 2008 sind allerdings Rechnungsprüfer zur Erkenntnis gelangt, dass manche Teilstrecken offenkundig überflüssig sind, weil sie kaum genutzt werden, und überdies, dass manches Bauprojekt mit Korruptionsaffären verbunden war. Ein Kilometer Autobahn kostete damals nach Berechnungen von Fachleuten der Madrider Complutense-Universität doppelt so viel wie in der Bundesrepublik, weil die Rechnungen völlig überhöht waren.

Autofahrer stehen lieber im Stau, als Maut zu zahlen

Die Betreiber von sechs mautpflichtigen kurzen Autobahnabschnitten, die alle zum großen Madrider Ring führen, teilten Ende des vergangenen Jahres mit, dass sie vor der Zahlungsunfähigkeit stünden. Es ist die Folge eines grundsätzlichen Denkfehlers der Planer: Sie haben doppelt gebaut. Denn die mautpflichtigen Strecken ergänzen bereits vorhandene Schnell- und Umgehungsstraßen. Diese waren zu den Stoßzeiten stets verstopft, die zusätzlichen Strecken sollten sie entlasten. Doch die Annahme, dass ein Großteil der Autofahrer mehr aufs Zeit- denn aufs Geldsparen setzt, war falsch; die meisten Fahrer nahmen lieber die Staus weiterhin in Kauf.

Hingegen ging die Rechnung auf, einige der Viertel durch Rückbau von Straßen vom Autoverkehr zu entlasten. Aus mehreren vierspurigen Straßen wurden wieder zweispurige, die nun verbreiterten Bürgersteige wurden bepflanzt. Auf diese Weise entstanden neue Alleen. Gleichzeitig wurde der Parkraum in der Innenstadt verknappt, die Parkgebühren stiegen drastisch, die Stunde kostet nun bis zu fünf Euro. Das Ziel war es, den Bewohnern der Randbezirke und Vororte die Fahrt mit dem eigenen Wagen in die Innenstadt zu verleiden. Das System der Parkuhren speichert die Nummer des Wagens, der allerhöchstens zwei Stunden in einem Viertel stehen darf. Dann muss der Fahrer ein anderes Viertel anfahren und erneut lange nach einem Stellplatz suchen, was naturgemäß die überwältigende Mehrheit nicht auf sich nehmen möchte.

Immer mehr Madrilenen trauen sich aufs Rad

Seit dem Amtsantritt der linksalternativen Oberbürgermeisterin Manuela Carmena im Frühjahr 2015 haben einige der großen Verkehrsachsen auch Fahrradspuren bekommen - früher völlig undenkbar in Madrid. Fahrradleihstationen sind steuerlich begünstigt, immer mehr Madrilenen trauen sich nun aufs Rad, auch weil sich in den letzten Jahren die Autofahrkultur offenkundig gebessert hat. Noch vor zwei Jahrzehnten gehörte Spanien zu den Schlusslichtern in der EU bei den Unfallzahlen und Verkehrstoten. Reiseführer warnten vor dem ruppigen Machoverhalten eines Großteils der Spanier am Steuer.

Doch mit umfassenden Maßnahmen haben es die Behörden geschafft, hier eine große Trendwende durchzusetzen. Dazu gehörten drastische Strafen ebenso wie Medienkampagnen, aber auch die Steuerung des Verkehrs durch eine Ampelschaltung, die jedes Rasen sinnlos macht. Schließlich auch der Rückbau mancher Rennstrecken auf dem Stadtgebiet. Galt es noch vor einem Jahrzehnt als gefährlich, bei fließendem Verkehr über einen Zebrastreifen ohne Ampel zu gehen, so hält nun die große Mehrheit der Autofahrer, wenn Fußgänger am Rand stehen.

Nur noch Busse mit Hybrid- oder Erdgasantrieb

In ganz Spanien ist die Zahl der Verkehrstoten seit der Jahrtausendwende um etwa 60 Prozent zurückgegangen, auch dies ist ein europäischer Rekord. Im Gegensatz zu anderen südländischen Metropolen ist der alltägliche Umgang von Autofahrern und Fußgängern viel entspannter geworden. Und alles spricht dafür, dass auch die Radfahrer ihren Platz finden werden.

Um den Verzicht aufs Auto attraktiv zu machen, wurden auch Parkplätze an den Metrostationen in den Randbezirken angelegt, deren Benutzung für die Besitzer von Dauerkarten der Verkehrsbetriebe gebührenfrei ist. Gleichzeitig wurden die Zubringerstrecken für Stadtbusse ausgebaut. Noch zu den Zeiten des Wirtschaftsbooms setzte die Erneuerung der Wagenparks ein. Mittlerweile macht der Bus mit dem klassischen Dieselmotor nur noch einen Bruchteil der insgesamt 1900 Fahrzeuge aus, bis zum Jahr 2025 soll der letzte Dieselbus aus dem Verkehr gezogen sein. Dann sollen auf Madrids Straßen nur noch Nahverkehrsbusse mit Hybridantrieb oder Erdgasmotoren fahren. In einigen Strecken am Stadtrand kommen auch Kleinbusse mit Elektromotor zum Einsatz.

Die kombinierte Jahreskarte für Bus und Metro kostet etwa 500 Euro, die Zehnerkarte 12,20 Euro, die Einzelfahrt 1,70 Euro - womit Madrid unter allen Hauptstädten in den großen EU-Ländern mit Abstand den billigsten Nahverkehr anbietet. Da die Arbeitslosigkeit nach wie vor hoch ist und auch immer mehr Menschen nur prekäre Jobs finden, ist trotz des großen Defizits beim Betrieb der Metro an eine Preiserhöhung nicht zu denken. Ebenso war nach der Protestwelle wegen "Vodafone Sol" eine Verlängerung des Werbevertrags ausgeschlossen, die Station heißt nun wieder schlicht "Sol" - Sonne.

Ausgeprägter Sinn für Ordnung und Disziplin

Zu den Gründen, warum die Madrider auf ihre Metro so stolz sind, gehört auch die Sauberkeit im Untergrund. Niemand hinterlässt leere Getränkedosen oder Chipstüten auf dem Sitz, Graffiti in und an den Waggons der Metro sind die absolute Ausnahme und werden umgehend entfernt. Vor allem aber drängeln die Madrilenen nicht, auch nicht im dichtesten Berufsverkehr. Selbst bei den Stadtbussen legen die Fahrgäste einen ausgeprägten Sinn für Ordnung und Disziplin an den Tag. Beim Einsteigen formiert sich eine Schlange. Niemand tanzt aus der Reihe, niemand versucht, sich vorzudrängeln.

Revolutionäre Konzepte haben die Verkehrsplaner der Drei-Millionen-Einwohner-Metropole für die nächsten Jahre allerdings nicht anzubieten, weder für den Personentransport noch die bessere Steuerung der immer noch gewaltigen Blechlawinen zu den Stoßzeiten. Doch sie haben ein klares Ziel: Die Dunstglocke, die an vielen klaren Tagen über der Stadt hängt, soll schrittweise reduziert werden und irgendwann sogar ganz verschwinden. Aus der autofreundlichen Stadt, zu der die damaligen Stadtväter Madrid in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Tod des Diktators Franco im Jahre 1975 umgestaltet haben, soll eine menschenfreundliche Stadt werden. Mit mehr Grün und guter Luft.

Die SZ berichtet in dieser Serie in loser Folge über den Nahverkehr in den Metropolen der Welt. Bisher erschienen: Zürich (14.10.). Sie finden alle Folgen unter www.sueddeutsche.de/nahverkehr.

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