Spätfolgen von Verkehrsunfällen:Weiterleben nach dem Crash

Verkehrsunfall

Laut Weltgesundheitsorganisation WHO sind Verkehrsunfälle die weltweit achthäufigste Todesursache. Jährlich sterben dabei mehr als eine Million Menschen.

(Foto: dpa)

Sichere Autos, moderne Medizin: Die Zahl der Verkehrstoten hat sich in den vergangenen 15 Jahren halbiert. Doch heute leiden Unfallopfer oft jahrelang unter körperlichen und psychischen Schäden. Jeder zweite kann nicht in seinen Beruf zurückkehren.

Von Steve Przybilla

Um den verunfallten Taxifahrer stand es schlecht: Lungenquetschung, Milzriss, Rippenfraktur. Nur durch mehrere Not-Operationen konnten die Ärzte sein Leben retten. "Wir hatten ihn durchgebracht", erinnert sich Bertil Bouillon, "und das ist in solchen Situationen das Wichtigste." Erst drei Wochen später, nachdem der Patient aus dem Koma erwacht war, bemerkten sie den Fehler: "Wir hatten eine Verletzung am Fuß übersehen. Hätten wir sie früher versorgt, wäre sie wohl gut verheilt. So aber konnte der Mann nie wieder Taxi fahren."

Immer mehr Schwerverletzte können nach Verkehrsunfällen gerettet werden. Das stellt Notfallmediziner vor neue Herausforderungen: "In bis zu zehn Prozent aller Fälle übersehen wir etwas", sagt Bouillon, heute Klinikdirektor und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU). Gleichzeitig verdeutlicht das Beispiel, auf welch hohem Niveau - im positiven Sinne - inzwischen gejammert wird: Erlagen 1999 noch 20 Prozent aller Schwerverletzten ihren Verletzungen, sind es inzwischen unter zehn Prozent, eine Halbierung der Opferzahlen innerhalb von nicht einmal 15 Jahren. Besonders deutlich zeigt sich das bei den Verkehrstoten in Deutschland, 3338 Personen im vergangenen Jahr, ein historisches Tief. Die meisten Autofahrer sterben immer noch auf Landstraßen, bei Unfällen in Kurven und Kollisionen mit Bäumen.

Dass immer mehr Menschen gerettet werden, hängt zum einen mit dem technischen Fortschritt zusammen. Autos werden immer sicherer, medizinische Diagnosegeräte immer genauer. Laut Reinhard Hoffmann, ärztlicher Direktor an der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Frankfurt am Main, spielt aber vor allem die Organisation im Krankenhaus eine wichtige Rolle. "Fernsehserien wie Emergency Room kennt jeder", sagt Hoffmann. Sobald jemand eingeliefert werde, gehe es dort hektisch zur Sache. Nur: "Mit der Realität hat das alles nichts zu tun."

Im Schockraum zählt jede Minute

In den letzten zehn Jahren haben sich die Abläufe in den "Schockräumen", in die kritische Patienten zuerst eingeliefert werden, stetig verbessert. Der Ablauf ist standardisiert: Zunächst wird der Bauchraum von Schwerverletzten per Ultraschall untersucht, um Blutungen festzustellen; bei Bedarf folgt eine Röntgenaufnahme. Nachdem ein Patient stabilisiert wurde, wird er in den Computer-Tomographen geschoben, der Knochen-, Schädel- oder Gehirnverletzungen sichtbar macht. "Diese Prozedur ist in den letzten Jahren immer schneller geworden", sagt der Mediziner.

Ein Beispiel: 2002 dauerte es im Schnitt 38 Minuten, bis ein Notfallpatient im Computer-Tomographen untersucht wurde; heute sind es 21 Minuten. "Wir erleben auch, dass sich Autos mit 200 km/h überschlagen und der Fahrer ohne schwere Verletzungen aussteigt", erzählt Bouillon und verweist auf Crashtests, die diese Entwicklung untermauern.

Allerdings werden solche Tests mit viel geringeren Geschwindigkeiten gemacht, der Euro NCAP etwa mit 64 km/h. Und Radfahrer haben herzlich wenig von stabileren Fahrgastzellen - sie bleiben verwundbar wie eh und je. Wiegt die Freude über sicherere Autos die Verkehrsteilnehmer also in falscher Sicherheit? Der Chirurg widerspricht: "Die meisten Unfälle passieren immer noch auf der Landstraße - mit geringerem Tempo."

Kaum noch Knochenbrüche

ADAC Crashtest

Autos werden immer sicherer, doch die Crashtest-Norm Euro NCAP gilt als überholt. Deshalb soll sie bald reformiert werden.

(Foto: ADAC)

Auch Ingo Marzi, Leiter des DGU-Wissenschaftsausschusses, sieht einen deutlichen Sicherheitsgewinn: "Vor zehn Jahren hatten wir noch ganz andere Verletzungen. Da kam es häufig vor, dass Patienten sowohl Arme als auch Beine nach einem Unfall gebrochen hatten. So etwas gibt es heute so gut wie nicht mehr."

Weil die Überlebensrate nach Unfällen steigt, rücken für die Ärzte nun andere Fragen in den Fokus. Zum Beispiel die besonderen Bedürfnisse von Kindern oder Senioren nach einem Unfall. "Mit älteren, brüchigen Knochen müssen wir ganz anders umgehen", erklärt Pol Rommens, Direktor des Zentrums für Orthopädie und Unfallchirurgie in Mainz.

Bis zu zwei Drittel aller Unfallopfer würden mit einer Verletzung des Bewegungsapparats eingeliefert. Doch auch hierfür gibt es neue Behandlungsmethoden - das klassische Gipsbein hat ausgedient. "Wir setzen darauf, dass die Patienten ihre Gliedmaßen schnell wieder bewegen können", sagt der Experte.

Die Hälfte dieser Patienten kann nicht in den alten Beruf zurückkehren

Noch läuft das System nicht perfekt. Auswertungen der DGU zeigen, dass 30 Prozent aller Schwerverletzten, die einen Unfall überlebt haben, hinterher unter Schmerzen leiden. Genauso viele kämpfen mit psychischen Problemen, und sogar die Hälfte aller Patienten kann nach Abschluss der Behandlung nicht in den alten Beruf zurückkehren.

"Das ist ein reales Problem, das wir angehen müssen", fordert DGU-Präsident Bouillon. Rund 150 000 Schwerstverletzte aus 600 Krankenhäusern seien bereits anonym in einem elektronischen "Trauma-Register" erfasst. Mithilfe dieser digitalen Akte könne man beobachten, wie sich ihre Gesundheit langfristig entwickelt - darunter auch die Lebensqualität.

Stellt sich nur die Frage: Wie misst man überhaupt Lebensqualität? "Das geht", betont Bouillon, "indem man verschiedene Kriterien zugrunde legt." Neben körperlichen und geistigen Folgeschäden spielt die Rückkehr in den Beruf eine wichtige Rolle. Während dieses Messverfahren bereits angewandt wird, plagen sich die Unfallchirurgen indessen schon mit dem nächsten Problem: Wie kann der Fachkräftemangel in ihrer Branche aufgefangen werden?

"Bei den Pflegekräften merken wir es bereits heute, bei den Ärzten werden wir in spätestens zehn Jahren ein Problem bekommen", sagt Klinikdirektor Hoffmann - eine Herausforderung, die auch der technische Fortschritt nicht zu lösen vermag.

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