Sicherheit durch Sensoren:Darum werden Motorrad-Fahrwerke immer besser

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Bei der Ducati Multistrada 1200 stimmt das sogenannte Skyhook-System das Fahrwerk automatisch auf aktuelle Fahrsituation ab - allerdings nur in der S-Version der Reisemaschine. (Foto: dpa-tmn)

Bodenwellen in Kurven verlieren ihren Schrecken: Erste Motorradhersteller bieten Fahrwerke an, die die Fahrsituation überwachen und die Dämpfung automatisch anpassen. Das kann Biker vor Stürzen bewahren.

Die Fahrwerke moderner Motorräder haben eine neue Evolutionsstufe erreicht: Nach und nach hält in der zweirädrigen Oberklasse Sensortechnik Einzug, die permanent Fahrsituation und Straßenzustand überwacht und die Stoßdämpfer passend abstimmt. Das geschieht wie von Geisterhand in Sekundenbruchteilen. Und es ist ein technischer Quantensprung im Vergleich zu den instabilen Fahrwerken der Bikes aus den Siebziger und Achtziger Jahren, die mit der Leistung der Motoren schlicht überfordert waren.

Damals stellte sich bei hohem Tempo und in langgezogenen Kurven häufig ein unangenehmes Pendeln ein. Doch die Fahrwerke holten ihren Rückstand gegenüber den Triebwerken in den folgenden Jahrzehnten auf: Die Dimensionierung der Motorradrahmen, Federelemente und Führungen an Front und Heck wuchs, bald ließen sich die Dämpfer in Zug- und Druckstufe, also dem Widerstand beim Ein- und Ausfedern, einstellen.

"Intelligente" Fahrwerke

Das sorgte bereits für viel mehr Fahrstabilität. Nun schreiben die Motorradbauer das nächste Kapitel: mit "intelligenten" Fahrwerken. Diese Systeme können anhand verschiedener Parameter erkennen, ob der Fahrer gerade durch enge Kurven auf seiner Hausstrecke wedelt, ob er auf der topfebenen Rennstrecke Zehntelsekunden nachjagt, über eine löchrige Landstraße fährt oder auf der Autobahn Kilometer macht. Zwar lassen sich schon seit 2005 bei immer mehr Motorradmodellen per Knopfdruck vom Lenker aus Fahrwerkseinstellungen vornehmen, etwa für Holperstraßen, den Soziusbetrieb oder für eine besonders sportliche Gangart. Doch dafür brauchen Biker ihren Daumen jetzt nicht mehr.

Bei Luxusautos und teuren Sportwagen hielten Fahrwerke, die sich von allein auf Fahrsituationen und Fahrbahn einstellen, vor rund zehn Jahren Einzug. Nun legt die Motorradindustrie nach: BMW nennt das semiaktive Fahrwerk im Supersportler HP4 "Dynamic Damping Control" (DDC) und stattet die Neuauflage seines Verkaufsschlagers - die Reiseenduro R 1200 GS - auf Wunsch mit "Dynamic ESA" aus. Ducati montiert sein "Skyhook"-System in der S-Version der Reisemaschine Multistrada 1200. Und die "Travel Pack"-Variante der neuen Aprilia-Enduro Caponord 1200 ABS wartet mit dem "Aprilia Dynamic Damping" (ADD) auf.

Bei Motorrädern mit dynamischer Dämpferkontrolle erübrigt es sich, das Fahrwerk per Knopfdruck oder Schraubenschlüssel auf den Soziusbetrieb abzustimmen. Zu den ersten Modellen mit dieser Technik zählt die Aprilia Caponord 1200 ABS "Travel Pack". (Foto: dpa-tmn)

Das semiaktive Fahrwerk bei BMW beispielsweise lässt sich in vier unterschiedlich sportlichen Modi voreinstellen. Sensoren übermitteln permanent Informationen an eine Recheneinheit. Dazu zählen Drehzahl, Geschwindigkeit, Gasstellung, Federbewegung und Bremsdruck sowie die Daten von ABS und Traktionskontrolle. Im Fall des DDC reagiert das Fahrwerk laut BMW innerhalb von nur 0,013 Sekunden und passt mittels Magnetventilen die Federung entsprechend der Fahrmanöver des Fahrers an. Das soll der Stabilität in allen Fahrsituationen dienen. Beim genüsslichen Fahren auf Landstraßen etwa ist Komfort gefragt, die Federelemente müssen dann weniger Dämpfung bieten als zum Beispiel bei hohem Tempo und großen Schräglagen auf der Rennstrecke.

Experten der in Stuttgart erscheinenden Zeitschrift Motorrad haben das DDC-System getestet. Ihr Fazit: Das elektronische Helferlein verbessert sowohl die Stabilität als auch den Komfort der Maschine - unabhängig davon, auf welcher Straße der Fahrer unterwegs ist. Sie haben die HP4 sogar einem Kickback-Test unterzogen. So nennen Experten das gefährliche Lenkerschlagen beim Kurvenfahren. Kickback kann auftreten, wenn das Vorderrad in Schräglage durch grobe Unebenheiten auf der Straße oder starkes Beschleunigen kurzzeitig den Bodenkontakt verliert und Sekundenbruchteile später wiedergewinnt. Dadurch kann das Motorrad von der angepeilten Linie abweichen. Oder es kommt sogar zu einem Sturz. Das DDC von BMW war in dieser Gefahrensituation eine Hilfe.

BMW zeigt auf diesem Schaubild, welche Komponenten für die dynamische Dämpfung (DDC) im Supersportler HP4 zusammenarbeiten. (Foto: dpa-tmn)

In nur gut einer Hundertstelsekunde öffnet das Fahrwerkssystem die sogenannte Zugstufe - also den Widerstand gegen das Ausfedern der Gabel - so weit, dass die Vorderradgabel schnell genug ausfedern kann, um einen Verlust des Fahrbahnkontakts zu verhindern. Laut Motorrad-Tester Stefan Kaschel funktioniert das so gut, dass sich mit der HP4 die Kickback-Teststrecke der Zeitschrift 15 km/h schneller bewältigen lässt als mit dem Schwestermodell BMW S 1000 RR ohne DDC. Im Sportmotorradbereich sind das Welten.

"Da geht noch einiges"

Dabei verzichtet das BMW-System komplett auf einen Sensor an der Vorderradgabel. Der sei für die Fahrsituationen, für die das DDC entwickelt wurde, nicht nötig, sagt HP4-Projektleiter Rudi Schneider. Trotzdem weise der Kabelbaum einen Anschluss für einen Gabelsensor auf. "Im Sportbereich geht da noch einiges", heißt es in München.

Dass die neuen dynamischen Fahrwerke nicht immer auch mehr Komfort bringen müssen, lässt die Kritik von Motorrad-Tester Peter Mayer an der Ducati Multistrada S mit "Skyhook"-System erahnen. Durch eine ungünstige Grundabstimmung gebe sich deren Fahrwerk trotz Elektronik unsensibler. Der Aufpreis hält sich indes in Grenzen: Ducati verlangt für die Maschine mit "Skyhook" 300 Euro mehr als für die Vorgängerin.

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