Rundumsicht bei modernen Autos:Die toten Winkel werden immer größer

Toter-Winkel-Warner bei VW

Totwinkel-Warner bei VW: Mit moderner Technik versuchen die Hersteller, die schlechte Rundumsicht ihrer Autos zu korrigieren.

(Foto: ADAC)
  • Die passive Sicherheit von Autos ist im Laufe der Jahre immer besser geworden. Steifere Karosserien mit breiteren Dachholmen schränken aber die Rundumsicht immens ein.
  • Der ADAC beobachtet einen Anstieg der Unfälle aufgrund von Sichtbehinderungen. Amerikanische Statistiken stützen diese These.
  • Moderne Autos, vor allem große SUVs, seien laut ADAC "bevorzugt zum Geradeaus-Fahren" gebaut.

Von Joachim Becker

Frühling, Sonne, Unfallzeit. Sobald die Motorradfahrer ausschwärmen, haben auch die Gelben Engel Hochbetrieb. Im Anflug an die Unfallstellen zeigt sich Piloten und Notärzten immer wieder das gleiche Bild: idyllische Landstraßen mit übersichtlichen Kreuzungen und Einmündungen, auf denen Autowracks und deformierte Motorräder liegen. Besonders gefährdet sind Zweiradfahrer auf einer Vorfahrtsstraße, die von querenden oder abbiegenden Pkw schlicht übersehen werden. Dass ihre Unfallgegner zu 80 Prozent die Hauptverursacher sind, hilft den Motorradfahrern nur wenig. Wenn ihnen ein Pkw unerwartet den Weg versperrt, schlagen sie kaum gebremst in die Autoflanken ein. Im Polizeibericht heißt es lapidar: Vorfahrt nicht beachtet.

Jeder siebte Verkehrstote oder Schwerverletzte ist laut ADAC aufgrund von falschem Einbiegen oder Kreuzen zu beklagen. Fast die Hälfte der tödlichen Unfälle an Kreuzungen sind dabei Linksabbieger-Kollisionen. Verblüffend, dass gerade auf der Fahrerseite - mit direktem Blick zum Verkehr - die meisten Unfälle passieren.

Sehenden Auges ins Verderben

Gut ausgebaute Straßen mit freier Sicht wiegen die Fahrzeuglenker in trügerischer Sicherheit. Erst eine vertiefte Unfallanalyse macht klar, dass der Fahrer auf der untergeordneten Straße den Unfallgegner auf der Hauptfahrbahn nicht oder viel zu spät wahrgenommen hat. Sichtunfälle nennen Experten solche Kollisionen. Je unübersichtlicher das Fahrzeug, desto größer die Gefahr, andere Verkehrsteilnehmer zu übersehen. Breite Dachsäulen können beispielsweise den falschen Eindruck vermitteln, dass der Weg beim Abbiegen frei sei. Nähern sich zwei Fahrzeuge mit konstanter Geschwindigkeit einer Kreuzung, dann kann ein von links kommendes Auto oder Zweirad für längere Zeit hinter der linken vorderen Dachsäule verschwinden.

Fatale Fehleinschätzungen

Rundumsicht bei modernen Autos: 360-Grad-Sicht im alten BMW: Gelbe Markierungen kennzeichnen beim ADAC Autotest die Verdeckungen des Sichtfeldes nach vorn, zur Seite und nach hinten.

360-Grad-Sicht im alten BMW: Gelbe Markierungen kennzeichnen beim ADAC Autotest die Verdeckungen des Sichtfeldes nach vorn, zur Seite und nach hinten.

Selbst wenn man andere Verkehrsteilnehmer (teilweise) sieht, kann diese sogenannte stehende Peilung zu fatalen Fehleinschätzungen führen: Wer andere Fahrzeuge nicht als bewegtes Objekt wahrnimmt, weil sie trotz Annäherung kaum größer werden, blendet sie im Bewusstsein allzu leicht aus - ein psychologisches Phänomen, das auch aus der Schiff- und Luftfahrt bekannt ist. Besonders gefährdet sind Personen ab 65 Jahren. Bei dieser Altersgruppe sind Sichtprobleme, die das "Übersehen" anderer Verkehrsteilnehmer begünstigen, doppelt so wahrscheinlich wie im Schnitt aller Autofahrer. Erschwerend kommt hinzu, dass die Beweglichkeit altersbedingt eingeschränkt ist. Sind Kopf und Oberkörper nicht ständig in Bewegung, können Sichtverdeckungen im Auto nicht kompensiert werden.

Während die Unfallzahlen insgesamt in den vergangenen zehn Jahren deutlich gesunken sind, beobachtet die ADAC-Unfallforschung einen Anstieg der Pkw- und Zweiradunfälle aufgrund von Sichtbehinderungen im Fahrzeug. Häufig mit gravierenden Folgen, weil die Aufprallenergie bei seitlichen Kollisionen im Kreuzungsbereich bestenfalls durch eine vordere Knautschzone gemindert wird.

Immer sicherer - und deshalb unübersichtlicher

Gerade die höheren Anforderungen an Crash- und überschlagsfeste Fahrgastzellen haben die Sichtverdeckungen in den vergangenen zehn Jahren zunehmen lassen. Breitere Dachsäulen steigern genauso wie dicke Kopfstützen auf allen Plätzen zwar die passive Sicherheit in neuen Automodellen. Gleichzeitig bergen sie die Gefahr, dass die relativ kleinen Silhouetten von Zweirädern dahinter verschwinden.

Rundumsicht bei modernen Autos: Standardisiertes Prüfverfahren: Beim ADAC Autotest wird die Rundumsicht vom Augpunkt eines 1,74 Meter großen Durchschnittsmenschen aus gemessen.

Standardisiertes Prüfverfahren: Beim ADAC Autotest wird die Rundumsicht vom Augpunkt eines 1,74 Meter großen Durchschnittsmenschen aus gemessen.

Eine Rundumsichtmessung, die zum Standard des ADAC-Autotest gehört, verdeutlicht die Unterschiede zu früheren Autogenerationen: Ein BMW 1802 aus den 1970er-Jahren würde mit seinen filigranen Dachsäulen heute das Prädikat sehr gut erhalten - das noch kein zeitgemäßes Modell erreicht hat. Häufiger als gute Resultate hagelt es mangelhafte Bewertungen bei der Übersichtlichkeit. Selbst der BMW i3 schneidet nur zufriedenstellend ab, weil seine Dachsäulen trotz der Karbonkarosserie kaum dünner sind als gewöhnlich. Mit der Note 2,8 liegt der Stromer bei der Übersichtlichkeit dennoch im vorderen Mittelfeld.

"Autos zum Geradeaus-Fahren"

Generell geht der Trend in die falsche Richtung: Die toten Winkel im Sichtschatten der Karosserie werden immer größer. Schon spotten die ADAC-Autotester, dass eine "steigende Anzahl von Fahrzeugen bevorzugt zum Geradeausfahren" gebaut würden. "Nicht nur die passive Sicherheit, sondern auch das Design und die aerodynamisch flach stehenden Dachsäulen haben heute häufig Vorrang vor einer guten Rundumsicht", sagt Dino Silvestro, der im ADAC Technikzentrum Landsberg den Autotest leitet.

Als ob die Sicht nicht schon schlecht genug wäre, hängen sich viele Autofahrer auch noch Andenken wie Kinderschuhe und Glückswürfel an den Innenspiegel. Heerscharen von kleinen Aufklebern wie Maut-Bapperl, Parkberechtigungen und Notrufnummern (!) engen das Sichtfeld zusätzlich ein. Von mittig in der Frontscheibe platzierten Saugnapf-Navigationsgeräten gar nicht zu reden. Ihre grelle Beleuchtung erschwert den nächtlichen Blick durch die Frontscheibe zusätzlich.

Eindeutige Statistiken

In Sachen Rücksicht sieht es nicht viel besser aus: Wie Panzerspähwagen verdecken die beliebten SUV-Modelle bis zu acht Meter Straßenraum hinter ihren hohen Aufbauten. "Selbst 1,30 Meter große Kinder können hinter dem Heck eines BMW X6 verschwinden, ohne vom Fahrer gesehen zu werden", erklärt Dino Silvestro. Wie gefährlich solche Blindflächen sind, zeigen amerikanische Statistiken: In den USA werden jährlich rund 300 Menschen von zurücksetzenden Autos getötet, 180 000 Personen werden dadurch verletzt - meist spielende Kinder, die dem rückwärts rollenden Wagen nicht ausweichen können.

Wenn Autos durch Sichtverdeckungen die Unfallwahrscheinlichkeit erhöhen, werden viele Sicherheitsgewinne durch automatische Notbremssysteme und andere Fahrerassistenten wieder kassiert. Die aktuelle Unfallstatistik spricht eine deutliche Sprache (siehe: Diese Woche). Jaguar hat daher ein Forschungsfahrzeug mit hochauflösenden Bildschirmen in den Dachsäulen präsentiert. Durch sie sollen digitale Außenkameras den ungehinderten Rundumblick ermöglichen. Doch Erfahrungen zeigen, dass die virtuell erweiterte Realität anstrengend sein kann. Wenn die Augen ständig umfokussieren oder sich auf Helligkeitsunterschiede zur Außenwelt anpassen müssen, wird der Fahrer die Mattscheiben früher oder später ausblenden.

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