Rückzug aus Europa:Arrivederci Lancia

Lancia Delta

Der Autor dieses Textes fuhr 16 Jahre lang einen Lancia Delta, der in seiner Motorsportversion zum Rallyehelden avancierte.

(Foto: FCA Germany AG)

Lancia war einmal die Marke der Schönen und Reichen, stilvoll, elegant und fortschrittlich. Doch gegen das zeitgenössische Management hatte sie keine Chance - und stirbt seit Jahren einen schleichenden Tod.

Von Thomas Urban

Es war keineswegs Liebe auf den ersten Blick vor genau einem Vierteljahrhundert, sondern eine nüchterne Kalkulation, bestimmt vom Zollstock und der Diebstahlstatistik. Der neue Wagen durfte nicht länger als genau vier Meter sein. Sonst würde er nicht in die Garage passen. Auch sollte er flott sein, aber kein Golf GTI, der war zu prollig und wurde zu oft geklaut.

So wurde es ein Lancia Delta, weil er ganze 3,89 Meter lang war. Er wurde ebenfalls von dem großen Giorgio Giugiaro gezeichnet, dem Vater des Golf. Eine klare und gerade Linie, ein Keil, dem man seinen durchzugsstarken Motor nicht ansah. Dann die erste Radarfalle auf einer Straße in Polen. Doch die Polizisten wollten kein Geld, sondern ein Foto. Das sei doch der Wagen, sagten sie, der fünfmal Rallyeweltmeister geworden sei. Den hätten sie noch nie in natura gesehen.

Das Thesis-Design gefiel nicht allen

So vermittelten die beiden polnischen Polizisten dem Normal-Delta-Besitzer das Gefühl, dass es etwas Besonderes ist, ein Lancista zu sein. Und nicht nur in Polen, wo es mit der Wende von 1989 gleich eine Lancia-Affäre gegeben hatte: Obwohl das Land pleite war, hatte die letzte kommunistische Führung noch eine Dienstwagenflotte von 60 großen Lancia Thema für ihre obersten Funktionäre bestellt, weil sie von den russischen Wolgas genug hatten. Die neue Solidarność-Regierung, die dem Volk harte Reformen mit viel Schweiß und Tränen ankündigte, wollte von diesem Vertrag zurücktreten. Schließlich einigte man sich mit Fiat-Chef Agnelli, dass nur die Hälfte abgenommen werden müsse. Doch der bescheidene Premier Mazowiecki, ein zur Askese neigender Solidarność-Mann, verzichtete demonstrativ auf den Luxus.

Später hielt es sein Landsmann in Rom, Papst Johannes Paul II., ähnlich: Er bekam von den Turinern den Prototypen einer Luxuslimousine geschenkt und ließ sie zugunsten der Armen verkaufen. Aus dem Prototyp ging dann der Thesis hervor, der letzte echte Lancia in der Oberklasse, dessen ausgefallenes Design indes nördlich der Alpen auf wenig Gegenliebe stieß.

Lancia Thesis

Der Thesis war Lancias letzter Versuch in der Oberklasse. Er scheiterte vor allem an seinem Design.

(Foto: FCA Germany AG)

Ein Eingeständnis des Scheiterns

Auch im Mutterland Italien war Lancia bei den Betuchten längst ins Hintertreffen geraten, ausgerechnet gegenüber den Deutschen, gegenüber Mercedes, BMW, Audi. Der letzte Versuch, verlorenes Terrain wiederzugewinnen, scheiterte nun endgültig: Die Produktion der Oberklassenlimousine Thema und des Cabriolets Flavia wurde eingestellt, Nachfolger sind nicht vorgesehen.

Die Entscheidung war das Eingeständnis, dass das kuriose Projekt zur Wiederbelebung der Marke fehlgeschlagen ist: Die von Fiat-Chef Sergio Marchionne vorangetriebene Ehe zwischen Lancia und Chrysler. Der futuristische Delta III sollte in den englischsprachigen Ländern als Chrysler laufen, der Chrysler 200 und der bewährte 300er sollten in Kontinentaleuropa mit Lancia-Logo und einem eleganteren Cockpit unter den Traditionsnamen Flavia und Thema die deutschen Konkurrenten sowie Jaguar angreifen.

Italienische Oper vs. Countrymusik

Lancia Stratos

Früher eine Rallye-Legende, heute eine Ikone: der Lancia Stratos.

(Foto: FCA Germany AG)

Das war eine doppelte Mogelpackung und ging schief. Piemontesische Finesse und Detroiter Kraftbolzerei - die Gemeinde der Lancisti war entsetzt. Lancia ist weiblich, nicht zufällig hat die Werbung wie bei einem edlen Parfüm gern auf Heldinnen der italienischen Oper gesetzt, auf das "Follie, follie!" (Verrücktheiten!) der Traviata Verdis oder den Liebestraum der Doretta von Puccini. Chrysler ist Countrymusik, Cowboystiefel.

Lancia, das war eine frische Brise auf den gewundenen Küstenstraßen Italiens, wie in dem Kultfilm "Verliebt in scharfe Kurven" aus den Sechzigerjahren. Der Titel spielte auch auf die Rundungen des Aurelia-Cabriolets an, den der Frauenschwarm Vittorio Gassman über die Serpentinen steuerte. James Bond rettete damals die Welt im "Geheimdienst seiner Majestät" zwar in seinem Dienst-Aston-Martin, fuhr aber dann im offenen Lancia in den romantischen Feierabend.

Lancia Flaminia Cabrio mit Marcello Mastroianni

Berühmter Besitzer: Marcello Mastroianni im Lancia Flaminia Cabriolet.

(Foto: FCA Germany AG)

Berühmte Besitzer

Im richtigen Leben zeigten sich nicht nur die Italiener Enrico Caruso und Marcello Mastroianni als schwärmerische Lancisti, sondern auch Brigitte Bardot und Jean-Paul Belmondo. In Hollywood fuhren Greta Garbo, Audrey Hepburn und Gary Cooper im Lancia vor, und in der jungen Bundesrepublik - wer hätte ihm so viel Feinsinn unterstellt? - die Schlagmaschine Max Schmeling. Später machte der Rasenkünstler Franz Beckenbauer für die Italiener Reklame, zu der Zeit, als sie mit dem Delta die Motorsportfans begeisterten.

Es war die beste Zeit der Marke, die schon mit ihrer Gründung durch Vincenzo Lancia im Jahr 1906 sich von der Masse der Konstrukteure abheben wollte. Dies gelang auch lange Zeit: Zu seinen Pioniertaten gehörte die erste selbsttragende Karosserie, später schrieb sich die Turiner Firma noch mit der ersten Schräglenkerachse und dem ersten V-6-Motor in Serie in die Geschichte des Automobils ein. Nicht minder gehörten die Lancia-Ingenieure mit der Konstruktion von Lastwagen und Autobussen zur Avantgarde.

In Fiat-Hand geht es bergauf - zunächst

Lancia Thema 8.32

Den Thema gab es sogar mit Ferrari-Motor - ein Höchstmaß an Understatement.

(Foto: FCA Germany AG)

Die Firmenleitung freilich verzettelte sich nach dem Krieg, sie nahm zu viele Projekte gleichzeitig in Angriff. Ein Zementhersteller rettete sie vor dem Bankrott, war aber nach einem Dutzend Jahren selbst am Ende, sodass der Fiat-Konzern 1969 zu einem symbolischen Preis zugriff. Zunächst war dies eine Erfolgsgeschichte: Die nächsten beiden Jahrzehnte ging es kräftig bergauf. Der Stratos räumte Trophäen auf den Rallyepisten ab, der Delta übertraf ihn später noch und wurde außerdem in der Straßenversion zum Renner. Auch der schnörkellose Thema hielt sich gut; die große Reiselimousine war sogar mit Ferrari-Motor im Angebot, ein Höchstmaß an Understatement.

Doch die Nachfolgemodelle der Neunzigerjahre zündeten schon nicht mehr. Der Delta II hatte nichts mehr von dem kantigen Charme, er war ein verweichlichter, pummeliger Langweiler. Die parallel dazu auf den Markt gebrachte Limousine namens Dedra machte auf biedere Familienkutsche, wie auch ihr Nachfolger, der Lybra, dessen Kulleraugen-Scheinwerfer und geschwungener Kühlergrill eher an ein wohlerzogenes Kind, als eine selbstbewusste Dame erinnerten. Nur als Kombi verströmten beide noch die Eleganz der klaren Linie. Die Bilanzen rettete in den letzten zehn Jahren allein der Kleinwagen Y, doch die Gewinnmargen auf dem umkämpften Segment sind ebenfalls klein.

Lancia Ypsilon

Vorerst wird nur der kleine Ypsilon weiterleben - und das auch nur in Italien.

(Foto: Thomas Starck; FCA Germany AG)

Der letzte Delta hieß Papagei

Vor allem vernachlässigte die Konzernführung die Modellpflege völlig. So wurde die Produktion des erfolglosen Delta II, des Weicheis, 1999 eingestellt. Doch der Delta III kam erst neun Jahre später, und dann auch noch in einem anderen Segment: Er ist Mittelklasse, 60 Zentimeter länger als die Vorgänger. Vor allem aber sind Karosserielinie, Scheinwerfer und Rückleuchten so grell gezackt, dass viele der auf vornehme Sachlichkeit höchsten Wert legenden Lancisti verstört wurden. "Er sieht aus wie ein Papagei", dieses Etikett machte in Medien und Foren die Runde. Jedenfalls wurde außerhalb Italiens dieses Papageienauto ein Misserfolg, obwohl Motor und Ausstattung durchweg gute Noten bekamen.

Nun also wird Lancia vom europäischen Markt verschwinden und sich ganz nach Italien zurückziehen, im Angebot lediglich den schnuckeligen Y. Ist dies der letzte Schritt vor dem endgültigen Aus? Vorbei jedenfalls sind die Zeiten, als deutsche Illustrierte ehrfürchtig Lancia unter der Rubrik "Renommierauto" einordneten, und die amerikanische Presse unter "Glamour".

Dem Lancista bleibt der Gebrauchtwagenmarkt, was keineswegs ein Grund zur Verzweiflung sein muss: Eher landesuntypisch sind diese Wagen aus Turin sehr solide und robust. Meinen ersten Delta habe ich 16 Jahre gefahren, vornehmlich auf Schlaglochpisten in Osteuropa, er hat sie locker weggesteckt. Für die Familie kamen die feinen Kombis dazu, nie hat einer von ihnen gestreikt. Addio del passato - "Vergangenheit, lebe wohl!", singt La Traviata. Der Name der Heldin heißt wörtlich: die vom Wege Abgekommene. Wie der Untergang Lancias, molto triste.

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