Rennen zwischen Auto und Zug:Schnapsidee mit Folgen

Autorennen in England, 1931

Woolf Barnato war Rennfahrer und besaß auch Rennwagen. Hier fährt Jack Dunfree einen seiner Bentleys 1931 auf der Rennstrecke Brooklands.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Ohne Legenden um die tollkühnen Fahrer wären Oldtimer nur halb so schön. Ein solcher Mythos ist das Rennen zwischen einem Bentley und einem Schnellzug im Jahr 1930. Eine Heldengeschichte, die einer genauen Prüfung leider nicht standhält.

Von Axel F. Busse

Es braucht manchmal nicht wirklich viel zur Legendenbildung. Im vorliegenden Fall sind es ein ebenso reicher wie exzentrischer Unternehmer und Bonvivant, ein Schnellzug und eine Schnapsidee. Wahrscheinlich war Whisky im Spiel. Die Folge: Woolf Barnato, Finanzier und zeitweiliger Vorstandsvorsitzender von Bentley Motors sowie sein Kumpel, der Amateur-Golfer Dale Bourne, hetzen in wilder Fahrt durch Frankreich, um den Ruf der Eisenbahn als schnellstes Mittel der Personenbeförderung zu erschüttern. Der Gegner ist nicht irgendwer: Der Train Bleu verkehrt damals als Schnellzug zwischen Calais am Ärmelkanal und Menton an der Côte d'Azur. "Babe" Barnato behauptete, dass er mit seinem Speed Six schneller von Cannes nach Calais fahren könnte als der Luxuszug.

Herrenfahrer gegen Lokführer: Der Sieg des Individualverkehrs hat das Jahrhundert geprägt

Der mehrmalige Le-Mans-Sieger Barnato ist von der Zuverlässigkeit seines knapp 150 PS starken Wagens so überzeugt, dass er 200 Pfund Sterling einsetzt. Nach Kaufkraft entspräche dies heute mehr als 10 000 Euro. In verschiedenen Berichten ist auch von 100 Pfund die Rede, auf jeden Fall setzt er ein ordentliches Sümmchen. Am Abend des 13. März wartet der Millionär mit Dale Bourne, der ihn am Steuer ablösen soll, in der Bar des Carlton Hotels in Cannes auf die Nachricht von der Abfahrt des Train Bleu. Als diese abends gegen sechs Uhr eintrifft, leeren die beiden noch gelassen ihre Drinks und fahren los.

In Aix-en-Provence, gut 150 Kilometer weiter, tanken sie ihren 6 ½-Liter Speed Six noch einmal voll. Nachts in der französischen Provinz eine offene Tankstelle zu finden, darauf wollte sich Barnato nicht einlassen. Er hat ebenso dafür gesorgt, dass in Lyon die Zapfsäule einer Werkstatt bis nach Mitternacht besetzt bleibt, und für vier Uhr morgens einen Tanklaster nach Auxerre südlich von Paris bestellt. Dennoch will er auf Nummer sicher gehen und bringt zusätzliche Benzinkanister im Außenkoffer am Heck unter.

Dumm nur: Mit dem vielen Sprit an Bord ist der Wagen erheblich schwerer geworden und setzt immer wieder auf, sodass Barnato maximal 130 km/h fahren kann. Zu seinem Glück fuhr der Nachtexpress mit all seinen Waggons auch nicht schneller. Die zwei Briten erreichen Lyon eine Minute vor Mitternacht. Doch dann beginnt es stark zu regnen, die Sicht wird schlecht. Mit 20 Minuten Verspätung müssen sie sich obendrein in Auxerre auf die Suche nach dem Tank-Lkw machen, dessen Fahrer ihn in der Stadt geparkt hat und nicht wie verabredet an der Ausfallstraße.

Technik und Mythos müssen kein Widerspruch sein, sondern dienen gemeinsam der Wertsteigerung

Dazu kommt noch besonderes Pech: ein Reifenplatzer. Und natürlich ist nur ein einziges Reserverad an Bord. Der Wechsel klappt problemlos, aber ein derartiger Vorfall darf nicht mehr passieren. Kurz vor Paris lässt der Captain, ermüdet von den schlechten Wetterbedingungen, endlich den Kopiloten für zwei Stunden ans Steuer. Um halb elf Uhr vormittags erreichen sie Boulogne - gerade noch rechtzeitig, um als Erste auf das Postschiff nach Folkestone zu rollen. In England fährt der Speed Six vorneweg vom Schiff und um 15.20 Uhr parkt Babe den Speed Six vor seinem Club in der St. James Street in London - "exakt vier Minuten, bevor der Zug in den Bahnhof von Calais einfuhr", heißt es in einem zeitgenössischen Bericht. Die Wette war also gewonnen, das Empire um eine Legende reicher. Zu der übrigens auch gehört, dass Bentley ob der Schmach für die Grande Nation vom Pariser Autosalon im Herbst 1930 ausgeladen wurde.

Will man die Strecke heute mit dem Auto zurücklegen, ist man über gut ausgebaute Autobahnen rund 1200 Kilometer unterwegs. Damals war die Entfernung vermutlich noch länger, statt Autobahnen gab es holperige Schotterpisten. Streckenposten, Fotografen oder sonstige Zeugen, die das Geschehen hätten protokollieren können - Fehlanzeige, weshalb dem Gemälde von Terence Cueno dokumentarischer Wert zugemessen wird. Es verleiht dem Rennen eine Dramatik, die es aber zu keiner Zeit gehabt hat. Nicht nur, dass Bentley und Blue Train nicht auf parallelen Trassen dahinjagten. An dem abgebildeten Coupé wurde zum Zeitpunkt des Rennens in der Werkstatt von Gurning Nutting noch eifrig geschraubt. Tatsächlich unterwegs waren Babe und sein Kopilot in einem Speed Six Saloon. Das Coupé wurde vom Bentley Service Department im Juni 1930 mit einem Meilenstand von 391 eingetragen, der Wagen war erst Ende Mai registriert worden, konnte also unmöglich im März das Rennen gewonnen haben.

Weitere Ungereimtheiten

Woolf Barnato und seine Frau Claridge Quealy, 1933

Woolf Barnato und seine Frau Claridge Quealy im Jahr 1933.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Als zweifelhaft ist auch die Darstellung der Lokomotive anzusehen, wahrscheinlich handelte es sich um einen Typ PLM 241, der zur damaligen Zeit bei der französischen Staatsbahn SNCF in Gebrauch war. Die dargestellte kegelförmige Spitze des Kesselaufbaus gehört allerdings zum Typ 241 C, der nach übereinstimmender Darstellung von Eisenbahnexperten als Prototyp erst im späteren Verlauf des Jahres 1930 fertiggestellt wurde.

Den Beifahrer Dale Bourne hat der Maler gänzlich unterschlagen, obwohl er unverzichtbar war. Dafür hat Cueno in künstlerischer Freiheit etwas anderes eingefügt - eine Maus, die am rechten unteren Bildrand vor dem Speed Six über die Piste fegt. Es war eine bekannte Marotte des 1996 verstorbenen Malers, in seinen zahlreichen Gemälden von Brücken, Eisenbahnen und Lokomotiven jeweils eine Maus zu verewigen.

Dass der Zweitürer mit dem nach hinten abgeflachten Dach viel cooler aussieht als die Limousine mit ihrem rechteckigen Aufbau ist unstrittig. Daher rühren wohl auch die verschiedenen Versuche, das Coupé nachträglich und offiziell mit dem Rennsieg zu adeln. Als das Coupé 1984 von Sotheby's für 270 000 Pfund, heute etwa 364 000 Euro, versteigert worden war, hatte der Auktionskatalog das Rennen einfach in das Jahr 1931 verlegt.

Heute wieder im Originalzustand

Schließlich ist nicht einmal mehr sicher, ob es überhaupt eine Wette im eigentlichen Sinne gegeben hat. Barnato selbst hat für die Bentley Drivers Club Review 1946 eine eigene Darstellung abgegeben, wonach eine an der Côte d'Azur erscheinende Zeitung Autofahrer gesucht habe, die 20 Minuten vor dem Train Blue in Calais eintreffen würden. In unerschütterlichem Vertrauen in die Leistungsstärke seines Bentley behauptete der Captain daraufhin, sogar bis nach London zu kommen, bevor der Zug Calais erreiche. Aber eine Wette sei nicht abgeschlossen worden.

Dem steht wiederum die häufig wiederholte Behauptung entgegen, im Carlton-Hotel in Cannes befinde sich noch heute eine gerahmte Serviette, auf dem die Abmachung der vermeintlichen Wettbrüder schriftlich fixiert sei.

Ob Wette oder nicht: Das Blue-Train-Rennen ist unverzichtbarer Teil dessen, was besonders für britische Automobilmarken höchst wichtig ist: Heritage. Der Amerikaner Bruce McCaw, späterer Besitzer von Barnatos Speed Six, hat dafür gesorgt, dass zumindest ein Teil dieses Erbes heute wieder in einem über jeden Zweifel erhabenen Originalzustand zu bewundern ist: Er ließ die von Mulliner gefertigte Limousinen-Karosserie wieder auf das Fahrgestell montieren, mit dem Woolf Barnato die wilde Jagd gegen den Schnellzug tatsächlich für sich entschieden hat.

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