Porsche 911 Carrera 4:Ein unverrückbarer Mythos

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Der 'Elfer' bleibt ein leicht zu beherrschender Sportwagen, der die Puristen überzeugen sollte

(SZ vom 19.10.1994) Es gibt Phänomene im menschlichen Wertesystem, die stehen majestätisch wie Monumente: unverrückbar, über alle Kritik erhaben und gegenüber zeitgeistigen Veränderungen immun. Der Porsche 911 Carrera ist ein solches Phänomen im Kreise von Sportwagenliebhabern. Rührt mich nicht an, scheint er jenen entgegenzuwerfen, die ihm vorhalten, wie viele Jahrzehnte nun schon sein weitgehend unangetastetes Konstruktionsprinzip überdauert. Rührt ihn nicht an, betteln seine Fans vor jeder angekündigten Modernisierung gen Weissach und Zuffenhausen, wo die Porsche wachsen. Sie leben in ständiger Angst, ihr Mythos vom deutschen Sportwagen schlechthin könnte eine Schramme bekommen, was einen Verlust an Fahrcharakter gleichkäme, weil Allradantrieb nicht mit Sportlichkeit vereinbar sei - obwohl Walter Röhrl schon vor Jahren das Gegenteil bewies.

Einen unüberhörbaren Aufschrei gab es 1988, als der heckgetriebene Klassiker zu seinem 25. Geburstag erstmals mit dynamisch gesteuertem Allradantrieb präsentiert wurde. Ein Sportwagen mit Allradantrieb? Warum gerade der Carrera? Was von Pragmatikern als Traktionsvorteil interpretiert wurde (immerhin stellten sie zuletzt 30 Prozent der 911er-Gemeinde), insbesondere, weil man sich mit diesem Carrera sicherer in Wintersportgebieten zeigen kann, lehnten die Verwalter puristischer Sportlichkeit rigoros ab. Der damalige Carrera 4 brachte deutlich mehr Gewicht auf die Waage als sein klassisches Pendant mit Heckantrieb, untersteuerte in flott gefahrenen Kurven wie eine brave Familienlimousine, lag im Verbrauch etwas höher und hinkte dem agilen Bruder Carrera 2 im fahrdynamischen Vergleich hinterher. Viele akzeptierten ihn nicht als 'echten' Porsche.

Typische Fahrcharakteristik

Dieser Kritik besannen sich die Konstrukteure in Weissach schon während der Entwicklungsphase des aktuellen Carrera mit der internen Bezeichnung 935: In der zweiten Generation sollte der Carrera 4 über alle Zweifel erhaben sein. Heute nun müssen sie sich diesem Anspruch stellen, der neue Allrad-Carrera rollt in den kommenden Wochen zu den Händlern. Und um es vorauszuschicken: Die beinharten Puristen dürfen auf eine Überraschung gefaßt sein. Der neue Carrera 4 ist leichter, pflegt die typische Fahrcharakteristik des Hecktrieblers und kostet sogar 5000 Mark weniger als sein Vorgänger.

Die drei entscheidenden Komponenten des neuen Allradsystems sind die kraft-, drehzahl- und temperamentunabhängig arbeitende Viscokupplung zwischen Vorder- und Hinterachse, das fahrdynamische Sperrdifferential an der Hinterachse und das automatische Bremsdifferential.

Grundsätzlich zeichnet die Viscokupplung für die ideale Verteilung des Antriebsmoments zur Vorderachse verantwortlich und sorgt jederzeit für ideale Fahrstabilität. Die asymmetrische Auslegung des Sperrdifferentials an der Hinterachse bietet 25 Prozent Sperrwirkung unter Last und 40 Prozent Sperrwirkung im Schubbetrieb.

Für bessere Traktion

Damit reagiert der Carrera 4 bei abruptem Gaswegnehmen in rasch gefahrenen Kurven untersteuernd, also spurstabilisierend. Bei kräftigem Herausbeschleunigen aus Kurven dagegen trägt er zur Steigerung des Blutdrucks von eingefleischten Carrera-Fans bei; er übersteuert leicht kontrollierbar. Das im Carrera 4 serienmäßige ABD erkennt über die ABS- Sensoren den Antriebsschlupf einzelner Räder, die dann übers Steuergerät bis zur optimalen Kraftübertragung abgebremst werden. Das ABD-System wirkt bis 70 km/h traktionsoptimierend.

Erstaunlich ist, daß das neue Allradsystem gegenüber dem Hecktriebler nur rund 50 Kilogramm mehr wiegt und damit 50 Prozent weniger auf die Waage bringt als jenes im Allrad-Elfer der ersten Generation. Darüber hinaus wurden die mechanischen Leistungsverluste um 50 Prozent verringert. Konsequenten Leichtbau macht Porsche-Technik-Vorstand Horst Marchart dafür verantwortlich und verweist auf die beachtlichen Fahrdaten: In nur 5,5 Sekunden erreicht der 200 kW (272 PS) starke Carrera 4 aus dem Stand 100 km/h. Nominell bedeutet das wegen geringerer Traktionsverluste 0,1 Sekunden weniger als beim Hecktriebler. Für die Höchstgeschwindigkeit und den Drittelmix-Verbrauch gelten die gleichen Werte: 270 km/h bzw. 11,4 Liter auf 100 Kilometer. Und sogar der Kofferraum blieb durch die kompakte Bauweise des Vorderachsendifferentials unverändert.

Für welchen Porsche-Kunden sich der stattliche Aufpreis der Allradtechnik von 8570 Mark (Carrera 4 Coupé: 134 340 Mark, Carrera 4 Cabriolet: 151 190 Mark) gegenüber dem Hecktriebler lohnt, muß jeder selbst entscheiden. Erste Fahreindrücke bestätigen: Über Traktionsvorteile bei schlechter Witterung hinaus bietet das System noch bessere Kurvenführung und einen spürbar ruhigeren Geradeauslauf bei flotter Gangart auf Autobahnen, mithin zusätzliche Sicherheitsreserven. Dem Mythos Carrera wurde ein weiteres Kapitel gewidmet, und den Gesängen der Puristen ein Notenblatt geschwärzt. Das Monument blieb davon unberührt.

Von Jürgen Zöllter

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