Opel-Stammsitz Rüsselsheim:Weil das Prinzip Wachstum an seine Grenzen gestoßen ist

Rüsselsheim ist Opel. Doch der SC Opel Rüsselsheim spielt in der Kreisoberliga, das baufällige Opel-Bad ist geschlossen und statt 42.000 Menschen wie im Jahr 1978 arbeiten heute dort knapp 18.000 im Opel-Werk. Ein Besuch in einer Arbeiter-Burg, die fällt. Jeden Tag ein Stück mehr.

Christoph Schröder

Sie hießen Heinz und Willi, Horst und Heinrich, Wilfried und Norbert. Sie waren Arbeiter und Familienväter. Wenn sie zur Arbeit gingen, dann gingen sie in den Betrieb, ins Werk. Das Werk hieß Opel.

Opel war nicht in Rüsselsheim, Opel war Rüsselsheim. Sie hatten es in der Wirtschaftswunderzeit zu etwas gebracht, je nach Ausbildungsgrad zu einem bescheidenen Wohlstand, zu einem Haus in einer der vielen Nachkriegssiedlungen, die nach Sozialdemokraten der Vorkriegszeit benannt sind, zu einer eigenen Wohnung oder zumindest zu einem sicheren Auskommen. Dessen Fortbestand in alle Ewigkeit stellte niemand infrage in den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren, der Ölkrise und den ersten Dellen in der bundesrepublikanischen Erfolgskurve zum Trotz.

Opel war die Überlebensgarantie für eine ganze, nicht allzu kleine Stadt; rund 60.000 Menschen immerhin; der Sicherheitsfaktor im Leben der meisten Rüsselsheimer. Man schaffte "beim Opel", und selbstverständlich war auch der Weg der Söhne bereits durchgeplant. Man würde sie dort unterbringen, das war klar, und ihr Lebensweg wäre zwar vorgezeichnet, aber auch ökonomisch gefahrlos bis zur Rente.

Keine Chance, in Rüsselsheim Opel zu entkommen

Von der Innenstadt aus, hinter dem damals noch schmuddeligen Bahnhof, an den sich das Backsteingebäude mit dem imposanten, von drei mächtigen Laternen flankierten Opel-Hauptportal anschloss, dehnte sich das wachsende Werk in Richtung Westen und Südwesten aus; ein Gewirr von Gebäuden und Hallen, über das sich der weit sichtbare Turm mit dem Opel-Blitz erhob. Keine Chance, in Rüsselsheim Opel zu entkommen.

Von Süden her kommt man über die vierspurige Adam-Opel-Straße in die Stadt; zur Rechten liegt die ausgedehnte Siedlung "Dicker Busch", ein beeindruckendes, beinahe beängstigendes Sechzigerjahre-Hochhausensemble in Grau, das mittlerweile bunt angestrichen wurde und dadurch etwas von seiner Wucht verloren hat. Der ausgefranste Stadtrand, so heißt es in der offiziellen Geschichtsschreibung der Stadt, sei mit dem "Dicken Busch" begradigt worden.

Ging man in Rüsselsheim schwimmen, dann ging man ins Opel-Bad, das heute geschlossen ist, weil die Renovierung der maroden Becken zu kostspielig wäre. Nun sind sie zugewuchert und rotten vor sich hin. Manchmal stehlen sich Nostalgiker hinein, um Fotos zu machen. Geplant ist, an dieser Stelle Sportplätze für den Traditionsfußballklub der Stadt zu errichten. Der Verein heißt selbstverständlich SC Opel Rüsselsheim und hatte seine beste Zeit Mitte der Sechzigerjahre. Das Vereinsgelände in der Stadt soll verkauft und bebaut werden.

Ein anderer Fußballverein, der VfR, hatte seinen seinerzeit gefürchteten staubigen Aschenplatz in der Böllenseesiedlung. Eine Halbzeit lang spielte man dort immer auf die hohe graue Wand des Opel-Spritzwerkes zu, vor der das Tor stand, vom Werksgelände getrennt durch einen hohen Zaun.

Eine Stadt im Zeichen der Industrie bringt ihre eigene Soziokultur hervor. Jeder hatte einen türkischen Gastarbeiter, so hieß das damals noch, in seinem näheren Umfeld. Je nach Schichtplan führte der am Abend oder am Morgen in der eigenen Garage die notwendigen Reparaturarbeiten an den Autos der Nachbarn durch - vorausgesetzt, es handelte sich um einen Opel.

Wer sich daran erinnert, welch erbitterter Konkurrenzkampf seit den Siebzigern zwischen dem VW Golf und dem Opel Kadett um die Vormachtstellung in der sogenannten unteren Mittelklasse (und wer die untere Mittelklasse beherrschte, beherrschte das Land) ausgetragen wurde, der weiß, dass der Kauf eines VW, eines Golf gar, in Rüsselsheim mehr als ein Stilbruch war. Es war eine Provokation.

Es gab alte Opelaner, die nach der Verrentung über den Betriebsparkplatz liefen und sich die Kennzeichen derjenigen Autos notierten, die keine Opel waren. Was sie damit angefangen haben? Es war möglicherweise nur der Versuch, die Verräter zumindest zu registrieren und zu kennen, wenn man ihnen schon nicht mit legalen Mitteln Einhalt gebieten konnte.

Was lief nur in Wolfsburg besser?

Im Jahr 1862 begann die Geschichte der Firma Opel mit der Gründung einer Nähmaschinenfabrik, die in einem Kuhstall untergebracht wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte Rüsselsheim etwa 2000 Einwohner. Die Stadt Wolfsburg, der Sitz des großen Konkurrenten, hatte noch 1938 nur knapp 1200 Einwohner. Dann kamen Hitler und das KdF-Modell, das später Käfer heißen sollte. Heute sind es 120.000, doppelt so viele wie in Rüsselsheim.

Wolfsburg hat einen ICE-Bahnhof, eines der besten Restaurants Deutschlands und einen Bundesligaverein, während Opel von 1989 bis 2002 Hauptsponsor des FC Bayern München war und soeben verkündet hat, im Sponsoring bei Borussia Dortmund einzusteigen. Nebenan, in Bochum, steht noch in diesem Jahrzehnt die Schließung des Opel-Werks an.

Der SC Opel Rüsselsheim feierte im Sommer 2012 den Aufstieg von der Kreisliga A in die Kreisoberliga, von der 9. in die 8. Liga. Und VW verfügt seit Anfang des Jahrtausends über eine sogenannte Gläserne Manufaktur, ein Show-Werk, in dem die Autoherstellung publikumsgerecht unter Reinraumbedingungen zelebriert wird. Wolfsburg hat sein Image poliert und gewandelt; Rüsselsheim ist Rüsselsheim geblieben: ein in ein multikulturelles Gewand gekleideter Arbeitertraum der alten Bundesrepublik, aus dem man seit Jahrzehnten aufwacht, ohne so recht zu begreifen, was gerade geschieht.

Opel ist, trotz aller Häutungsversuche, in der öffentlichen Wahrnehmung die Marke der Biedermänner geblieben; der Senioren mit umhäkelter Klopapierrolle auf der Hutablage. Autos, gebaut für Rüsselsheimer. Solide, praktisch, konservativ sozialdemokratisch. Biedermann oder Prolet. Über die Manta-Witze, die nach der Wende aufkamen, konnte man in Rüsselsheim nicht lachen, weil man sie nicht verstand. Der Manta-Proll galt als eine Erfindung der Filmindustrie. In Rüsselsheim fuhr man seinen Manta mit Würde, Stolz und Eleganz. Das Kino bildete nicht die Realität ab; es erschuf sie erst.

Die bitterste Ironie der seit Jahrzehnten schwelenden Opel-Krise: Dass ausgerechnet der Mann, den heute viele Opelaner als das Fleisch gewordene Symbol für die Zerstörung ihres Lebenswerkes betrachten, sich anschließend zum Wolfsburger Konkurrenten davonmachte: José Ignacio López. Ein Mann, der unter dem Spardiktat eben das opferte, worauf alle stolz waren: die Qualität. Ein weiteres Imageproblem, von dem die Marke sich bis heute nicht erholt hat. "Produktionsoptimierung", so hieß der Pfusch seinerzeit in den frühen Neunzigern, als mit der Optimierung in allen Lebensbereichen begonnen wurde.

Der Kauf eines VW in Rüsselsheim war eine demonstrative Abgrenzung von der alles beherrschenden und definierenden Opel-Arbeiterschicht, die das Werk zu ihrer Heimat und ihrer Festung gemacht hatte, gewerkschaftlich organisiert, sozialdemokratisch regiert, unumstritten und unangetastet. Jener Typ von Mensch, der viel später noch einmal wiederkehren und an die Macht streben sollte in Gestalt von Andrea Ypsilanti, die für das Amt des Hessischen Ministerpräsidenten kandidierte und in einer Rede stolz verkündete: "Ich bin in Rüsselsheim als Sohn (!) eines Opel-Arbeiters geboren."

Opel hat Typen geboren

Der Opel hat Typen geboren, Typen, die das Leben in Rüsselsheim prägen und die wiederum selbst von der Stadt geprägt sind. Menschen, die Anekdoten aus den goldenen Zeiten erzählen, als man mit den regelmäßig aus Detroit anreisenden Delegierten von General Motors Feste feierte, mit allem, was dazugehörte: gekaufte Frauen, wilde Saufgelage.

Kein Alt-Opelaner, der nicht noch seinen gepflegten Vectra, Senator, Commodore oder gar Monza in der Garage hatte. Wenn er ihn nicht mehr selbst fahren konnte, ließ er eben fahren, und sei es nur zur jährlichen Inspektion in die Werkstatt. Ein Leben ohne eigenes Auto war für diese Leute nicht denkbar.

Es ist nicht möglich, Rüsselsheim zu lieben. Die Stadt ist hässlich und in der reichen Boomzeit zugebaut worden mit gutgemeinten Siedlungsprojekten. Sie ist kantig, sie ist spröde. Seit 1984 nach jahrzehntelangen Gefechten die Startbahn West des Frankfurter Flughafens eröffnet wurde, werden Rüsselsheim und die umliegenden Gemeinden zugedröhnt. Als Entschädigung gab es die Arbeitsplätze am Flughafen, die an anderer Stelle wegfielen.

Rüsselsheim liegt mitten im prosperierenden Rhein-Main-Gebiet, das sich gerne als Gesamtheit, als funktionierende Wirtschaftsregion präsentiert. Und ist doch auf sich alleine gestellt: Rüsselsheim ist, wie Opel auch, im langsamen, schleichenden Niedergang. 1978 arbeiteten 42.000 Menschen bei Opel in Rüsselsheim; heute sind es noch rund 18.000. Von 2015 an wird auch die Produktion des verkaufsstärksten Modells, des Astra, der früher Kadett hieß, vom hessischen Stammwerk ins Ausland verlegt. Kostenoptimierung.

Ein Hauch von Detroit weht durch Rüsselsheim. Die sozialdemokratischen Arbeiterparadiese; die Siedlungen mit den brav nebeneinander gereihten Eigentumshäuschen, den gepflegten kleinen Gärten mit den gemauerten Grillstellen, hat dieser Hauch nicht erfasst. Die, die hier sind, sind im Trockenen. Aber der Gedanke, dass sie irgendwann nicht nachwachsen werden, die Horsts, Heinrichs und Norberts, wie sie stolz hinter dem Steuer ihrer Mittelklassewagen sitzen und zur Arbeit fahren, der Gedanke, dass sie nicht nachwachsen werden, weil das Prinzip Wachstum an seine Grenzen gestoßen ist - er erschüttert die Identität einer ganzen Region.

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